Leseprobe:


Dass das Leben auch schön sein konnte, ja, das wusste auch er, das hatte er erfahren, aber schön war das Leben eigentlich nur, wenn man jung war. War man alt und wurde immer älter, war das Leben nicht mehr schön. Und wer sagte, es sei schön, obschon er 70 oder 80 ist, lügt. Der verschwieg nämlich, dass das Glied nicht mehr ordentlich steht, dass er Probleme mit der Blase hat oder die Knochen schmerzen, wenn man sich umdreht im Bett, oder dass man sich herumschlägt mit dem Gedanken, wie das wohl sein wird, wenn man bald sterben wird, ob man schmerzlos hinüberkommt oder ob man schreien wird trotz Medikation, weil einem der Krebs jeden Tag ein bisschen mehr die Organe zerfrisst.
Wenn er abends in seiner Wohnstube saß, allein, mit einem Glas Whisky in der Hand, war es schon vorgekommen, dass Brandt gedacht hatte: Loslösung vom Leben durch Erlösung. Sich selbst erlösen. Weil man es einfach satt hatte, irgendwie, diese unendliche Wiederkehr des Immergleichen: aufstehen, Zug fahren, ins Bett, aufstehen, Zug fahren, ins Bett. Hinüber, aber rasch rasch rasch, weil man sie nicht mehr aushielt, ertrug, diese normierte Existenz, diese gefällige, kleinbürgerliche.
Wenn Brandt auf sein Leben zurückblickte, erschrak er. Wie wenig er doch eigentlich erreicht hatte, bewirkt. Vor allem: woraus sein Leben im Wesentlichen bestand – aus Wiederholungen. Gut, es gab den Einkauf im Supermarkt, man traf den oder den, hielt ein Schwätzchen, erfuhr Neues, beispielsweise, wie es X erwischt hatte, Bergwanderung in den Dolomiten, einmal nicht aufgepasst, abgerutscht, 73 Meter in die Tiefe gestürzt, Schädel zertrümmert, vorbei; gut, es hatte Urlaube gegeben da oder dort, ein Dutzend vielleicht, auch Brandt war ein bisschen herumgekommen in der Welt, Marokko, Spanien, Portugal, Frankreich, Belgien, Niederlande, Schweiz, Österreich, Italien, Tschechische Republik, nur der Heimatverbundene war er schließlich nicht; gut, es hatte Frauen gegeben, viele Frauen, attraktive, durchaus, und es hatte Sex gegeben an den unterschiedlichsten Orten und in den unterschiedlichsten Stellungen, sogar Fellatio und Mammalverkehr waren vorgekommen, sodass er, was das Sexuelle betraf, sich nicht beschweren musste als Mann. Aber insgesamt betrachtet, in der Summe, wenn er Bilanz zog, ungeschminkt? Wiederholung. Sein Leben war eine nicht enden wollende Kette von Wiederholungen. Aufstehen, was machen, ins Bett, aufstehen, was machen, ins Bett. Und irgendwann war man tot. Und gegen diese Gedanken half auch nicht, dass er eine Erzählung geschrieben hatte mit 144 Seiten Text. Auch ein Schriftsteller wird irgendwann eingeholt von diesem Gefühl, das dir bedeutet, dass alles, was du tust, eigentlich nur Wiederholung ist, eben Alltag, Routine, Trott. Ob du nun einen Dieseltriebwagenzug fährst oder Stücke für die Bühne schreibst – irgendwann wird alles zu Alltag, Routine, Trott. Und Trott ist Sein wie tot.
Früher, als er ein junger Mann gewesen war, 14, 15, 16, hatte er davon geträumt, ein Rockstar zu werden. Seine Idole hießen Jimi Page, Richie Blackmore, John Bonham. Aber für das Spielen eines Instruments, Gitarre oder Schlagzeug, fehlte ihm das Talent. Also hatte er Musik ausschließlich konsumiert, das hieß: Schallplatten gekauft, hunderte, und Konzerte besucht, Whitesnake, Scorpions, Iron Maiden und wen es sonst noch so gab. Und später, als er sich hatte entscheiden müssen, womit er sein Geld verdienen wolle, war er eben Lokführer geworden. Obschon er auch anderes hätte machen können. Studieren zum Beispiel, Mathematik oder Philosophie oder Literatur, denn das Abitur hatte er ja geschafft, ein gutes Abitur, Notendurchschnitt 1,6. Aber er war dann doch Lokführer geworden, wie sein Großvater mütterlicherseits. Ein Mann und eine Maschine – das hatte ihn gereizt. Fast dreißig Jahre lang hatte er Güterzüge gefahren quer durch die Republik. Das hatte Spaß gemacht. Brandt war gerne Lokführer. Immer noch. Auch heute noch.
Er konnte ihn ja selbst nicht richtig erklären, seinen ständigen Missmut über sich selbst, seine eigene Biografie. Womöglich lag es daran, dass er auf der Bühne des Lebens nie eine herausragende Rolle gespielt hatte als Mann, dass er immer nur Rädchen im Getriebe gewesen war, Befehlsempfänger, Anweisungenfresser, Vorgabenschlucker, Marionette in Bahnuniform, einer, dem man sagte, das ist deine Strecke, die musst du fahren, das sind deine Haltepunkte, die musst du pünktlich erreichen. Und das war‘s.