Leseprobe:
Rauch über Schloss Hartheim. Erzählung
Katharina
Kutil
1.
Das satte Grün der Wiesen und Felder zog an ihm vorbei.
Der Himmel war strahlend blau, die Sonne spielte in den
Blättern der Bäume und warf seltsame Schatten
auf den Boden, so als ob ein Maler zu seinem Zeitvertreib
den Pinsel machen ließ, was er wollte. Die Natur
gab ein kräftiges Lebenszeichen von sich, einladend,
sanft, wohltuend nach dem langen, kahlen Winter, der mit
seiner Eintönigkeit alle Le-
bensgeister erlahmen ließ. Der Autobus, der eigens
für die Klassenfahrt angemietet worden war, hielt
vor dem schön restaurierten Schloss, Frau Professor
Schubert erhob sich und nahm das Mikrophon des Busfahrers
zur Hand: „Bleibt bitte noch sitzen, denn bevor wir
das Schloss besichtigen, möchte ich Euch noch einige
Details über Hartheim erzählen. Im Jahr 1898 überschrieb
der damalige Besitzer Camillo Heinrich Fürst Starhemberg
das Schlossgebäude, die Nebengebäude und einigen
Grund dem Oberösterreichischen Landeswohltätigkeitsver-
ein. Durch weitere Spenden war man in der Lage, eine seiner
Zielsetzung entsprechende – wie man es damals nannte – „Idioten-Anstalt“ zu
errichten. Daraufhin wurden zwischen 1900 und 1910 umfangreiche
Restaurationen und Anpassungen vorgenommen, um das Gebäude
als Pflegeanstalt für geistig behinderte Menschen
nutzen zu können.
Im Frühjahr 1939, also nach der Machtübernahme
Adolf Hitlers, wurde der Landeswohltätigkeitsverein
aufgelöst. Der Pflegebetrieb wurde aber vorerst weiter
aufrechterhalten. Erst im März 1940 wurden die Pfleglinge
und das Personal verlegt, um das Heim zu einer Euthanasie-Anstalt
umzubauen. Das äußere Erscheinungsbild des Schlos-ses
blieb davon unberührt. Im Erdgeschoss des Ostteils
wurden eine Gaskammer, der Leichenraum und ein Verbrennungsofen
errichtet. Als man damit fertig war, begann eines der grauenvollsten
Kapitel des Dritten Reiches. In Schloss Hartheim wurden
im Rahmen der Aktion T4 im Schnitt 20 bis 60 Menschen pro
Tag getötet und verbrannt, nach sechzehn Monaten belief
sich die Zahl der Opfer auf 18.269 Personen. In der Euthanasieanstalt
arbeiteten während der Zeit der Aktion T4 ungefähr
70 Personen, die meisten von ihnen wohnten auch im Schloss.
Die Tötung fiel in die Zuständigkeit der Mediziner,
der Gashahn der Gaskammer musste laut Vorschrift von einem
Arzt bedient werden. Das war aber nicht immer der Fall.
War keiner der Ärzte anwesend, so kam es nicht selten
vor, dass auch das Pflegepersonal oder einer der Heizer
den Gashahn aufdrehte. Nun stehen wir wieder vor der Frage,
die wir uns schon beim Thema Konzentrationslager gestellt
haben: Wie konnten Menschen in solchen Anstalten – und
Hartheim war nur eine von vielen – einer solchen „Arbeit“ nachgehen,
wie konnten sie es vor sich selbst verantworten, was sie
tagtäglich an Verbrechen begingen, dass sie Unschuldige
bewusst töteten, weil man diese als sogenanntes „Unwertes
Leben“ bezeichnete? Bis heute forscht man in dieser
Richtung, aber es wird immer schwieriger, konkrete Antworten
zu finden, denn es leben kaum noch Zeitzeugen und wenn
sie an solchen Gräueltaten beteiligt waren, wollen
einige dies nicht zugeben und behaupten, es sei alles ganz
anders gewesen oder sie könnten sich nicht erinnern.
Und das obwohl es genügend Beweise für diese
schrecklichen Taten gibt. Natürlich tat die NS-Führung
einiges, um den Angestellten das Wegsehen zu erleichtern.
Alkohol wurde reichlich ausgeschenkt, es gab gemeinsame
Kinoabende und Ausflüge – in denselben Bussen,
in denen die Opfer in die Tötungsanstalt gebracht
wurden. Die gute Bezahlung mag verlockend gewesen sein.
Der Frauenanteil der Belegschaft war groß – es
gab auch Pärchen in der Belegschaft, sogar Ehen wurden
geschlossen. Rekrutiert wurde das Pflegepersonal meist über
das Arbeitsamt.
Die Professorin sprach noch weiter – über die
Gedenkausstellung „Wert des Lebens“, doch Pascal
hatte seine Ohren auf Durchzug gestellt. Er ertrug diese
Einzelheiten nur schwer und bei dem Gedanken, die Gedenkstätte
Hartheim zu besuchen wurde ihm übel. Er hatte Angst
davor. Und er verstand nicht. Wie konnten Menschen so grausam
anderen gegenüber sein? Es überstieg alles Fassbare,
Pascals Fantasie reichte nicht aus, um Erklärungen
zu finden. Gab es überhaupt Argumente, die diese Gräueltaten
logisch verständlich machten? Diese Verrohung der
Menschen war etwas, das Pascal zutiefst ängstigte
und eines war ihm klar – es konnte wieder geschehen.
Was heißt „konnte“? Es geschah doch schon
wieder, dass Menschen weggesperrt und gefoltert, auch ermordet
wurden, weil sie anderer Gesinnung waren, weil sie ihre
Meinung gegen eine diktatorische Regierung laut ausgesprochen
hatten. Auch wenn er in seinem Geschichtsbuch zurückblätterte
gab es keine Anzeichen, dass der Mensch jemals im Stande
war, andere einfach sein zu lassen. Wenn jemand gegen den
Strom schwamm, sich nicht der Masse anschloss, war er verdächtig.
Eigentlich hatte die Mensch-
heit nichts aus der Geschichte gelernt. Nachdenklich betrachtete
er den leeren Platz neben sich. Diese Welt war so laut,
so schnell und sehr oft auch zu aggressiv. Manchmal ertrug
Pascal es nicht mehr und musste sich für einige Tage
ganz zurückziehen, nur für sich sein, weil ihm
diese Welt zu viel wurde. Wenn er so nachdachte … es
sah nicht so aus, als hätte es die so oft erwähnte „gute
alte Zeit“ wirklich gegeben. Die Wahrheit sah doch
so aus, dass man heute alles mitbekam, was geschah – ob
man wollte oder nicht. Alle Medien – Radio, Fernsehen,
Internet – beschallten die Menschen, es gab kein
Entkommen. Früher, da las man in der Zeitung, wenn
man wollte, man konnte wählen, was man wissen wollte
und was nicht – dadurch kam einem die Welt wohl besser
vor als sie war, weil man nicht alles wusste. Pascal rieb
sich nervös die Hände, er fühlte sich sehr
unbehaglich, fast so als würde er eine Grippe bekommen.
Um der heutigen Klassenfahrt zu entgehen, hatte er seine
Eltern sogar gebeten, ihm eine Entschuldigung zu schreiben.
Magen-Darm-Grippe hatte er vorgeschlagen, das war etwas,
das man einfach so bekommen konnte und das schnell wieder
verschwand, also eine gute Ausrede für ein kurzes
Fernbleiben vom Unterricht. Er hatte versucht seinen Eltern
klar zu machen, dass ihm die Aussicht, an einen Ort zu
fahren und da herumzugehen wie ein Tourist, an dem tausende
Menschen qualvoll umkamen einfach zu viel war. Er spürte
die Ablehnung körperlich. Leider waren seine Eltern
nicht zu überzeugen, ja, sie konnten nicht begreifen,
was Pascal so fürchtet, dass ihm schlecht wurde. „Pascal“,
hatte sein Vater gesagt und war ihm dabei mit der Hand
durch sein dichtes, schwarzes Haar gefahren, „es
ist wichtig, sich dieser Vergangenheit zu stellen und sie
niemals zu vergessen. Nur so können wir verhindern,
dass Derartiges wieder geschieht.“
Pascal verdrehte innerlich die Augen. Wie oft hatte er
das schon gehört und gelesen? Man musste sich doch
nur in der Welt umsehen um zu wissen, dass alles Mahnen,
jedwede Aufarbeitung, die Erinnerungen der Opfer der Nazigrausamkeiten
zu nichts anderem geführt hatten, dass die Menschen
einfach weitermachten, als ob nichts geschehen wäre.
Es gab noch immer oder schon wieder Antisemitismus, Rassismus – das
Morden nahm kein Ende. Wie konnte sein Vater davor die
Augen verschließen?
„
Aber es geschieht doch schon längst wieder, dass Menschen
in Lager gesperrt werden.“
„
Ich weiß. Umso wichtiger ist es, dass man die Jugend
aufklärt. All dieses Leiden und Morden darf sich nicht
wiederholen. Und darum möchte ich, dass du mitfährst.“
Widerwillig hatte der achzehnjährige Pascal seinen
Rucksack genommen und trottete in Richtung Schule. Er könnte
immer noch schwänzen – und dann sagen, er hätte
den Bus verpasst. Irgendetwas würde ihm schon einfallen.
Er kam aus einer Familie, in der es keine Nazis gegeben
hatte. Eine Großtante, die Pascal aber nicht mehr
kennenlernte, versteckte sogar eine jüdische Familie
während der NS-Zeit. Nein, er musste sich seiner Vorfahren
nicht schämen, sie hatten sich im Kleinen widersetzt,
hatten getan, was möglich war, ohne selbst verhaftet
oder womöglich hingerichtet zu werden. Manchmal fragte
sich Pascal, wie er damals wohl entschieden, gehandelt
hätte? Mit dem Wissen im Nachhinein … selbst
damit konnte er sich nicht sicher sein. Wenn alle um einen
herum … wenn ein ganzes System im gleichen Schritt
marschierte … Hätte er den Mut gehabt: „Nein!“ zu
rufen? Mit Schaudern musste er an die Geschwister Scholl
denken. So jung, so mutig und bereit, ihr Leben zu geben.
Mit Flugblättern kämpften sie im Deutschland
der 1940er Jahre gegen das Nazi-Regime und die Politik
Hitlers – dafür wurden sie 1943 zum Tode verurteilt.
Stimmen, die nie hätten verstummen dürfen und
gerade in der heutigen Zeit sollten sie wieder gehört
und auf keinen Fall vergessen sein. Wieviel Mut es dazu
brauchte, sich in Hitlers totalitärem und tödlichen
System gegen eben dieses zu stellen, konnte Pascal nicht
ermessen, es überstieg bei weitem seine Vorstellungskraft.
Er blickte wieder auf den leeren Sitzplatz neben sich.
Sie fehlte ihm. Wäre sie hier, mit ihr hätte
er darüber sprechen können und vermutlich hätte
sie ihm mit einer Ausrede geholfen, die so gut durchdacht
war, niemand hätte etwas dagegen sagen können.
Doch sie war nicht hier, eine Tatsache an die Pascal sich
schwer gewöhnen konnte. Seine engste Vertraute … einfach
fort.
„
Pascal!“, hörte er die Stimme seiner Professorin
und musste feststellen, dass er so in Gedanken versunken
war, dass er nicht bemerkt hatte, dass seine Klassenkameraden
schon ausgestiegen waren und er alleine im Bus saß.
Er eilte den anderen hinterher, einen Kloß im Hals
vor lauter Unbehagen, was er nun wohl zu sehen bekommen
würde. Zu Pascals Erleichterung begannen sie nicht
gleich mit der Führung, so hatte er ein wenig Zeit,
sich an die beklemmende Atmosphäre, die immer noch
im Schloss herrschte zu gewöhnen. Ein älterer
Herr führ-te die Schüler in einen Raum, in dem
Stühle und ein Fernseher standen und meinte, als Einleitung
wäre es immer gut, sich die 30minütige Dokumentation „Hartheim – behindert,
ausgegrenzt, getötet“ anzu-sehen. Und damit
startete er den Film. Die Klasse hörte aufmerksam
zu – bis auf die üblichen Störenfriede,
die einfach nicht ihren Mund halten konnten und Scherze
machten. Frau Professor Schubert wies sie scharf zurecht – dann
war es still. Die Dokumentation über die Tötungsanstalt
Hartheim war sachlich, aber eindringlich und Pascal folgte
ihr gespannt. Eigentlich lag ihm das Thema Euthanasie nicht,
es bereitete ihm Übelkeit, schreckte ihn ab. Er fand
es zu entsetzlich, um sich damit auseinanderzusetzen. Selbst
besagte Tante erzählte erst nach dem Krieg ihrer Familie
von den versteckten Juden – davor wäre es zu
gefährlich gewesen, ein falsches Wort und alles hätte
auffliegen können – doch wenn man nichts davon
wusste … Hundertprozent glaubwürdiges Dementi.
Wie schlimm musste es sein, wenn man wusste, dass man jemanden
in der Familie gehabt hatte, der zum Beispiel bei der SS
war? Doch er schweifte ab, konzentrierte sich wieder auf
die Dokumentation und es lief ihm kalt über den Rücken:
Wenn die Opfer in Schloss Hartheim angekommen waren, mussten
sie sich ausziehen und an einem Arzt vorbeimarschieren.
Dieser sah ihnen in den Mund und wenn sie Goldzähne
hatten, markierte er sie und dann schrieb er bereits irgendeine
Todesursache auf einen Meldebogen. Diese angebliche Todesursache
wurde dann den Verwandten schriftlich mitgeteilt. Die entsetzliche
Wahrheit aber war, dass diese armen Menschen, sobald der
Arzt mit ihnen fertig war, sofort vergast wurden.
Pascal biss sich auf die Lippen. Das war noch schlimmer
als er erwartet hatte. Nicht umsonst hatte er sich gegen
diese Exkursion gesträubt und hatte nicht mitfahren
wollen – seine Augen brannten, er schloss sie für
einige Augenblicke. Eine kleine Insel in seinem Inneren
gab ihm dann doch die Kraft sie wieder zu öffnen. [...]
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