Leseprobe
Traum-Terrasse überm Gardasee
Dienstag, 07.09.2004
Am nächsten Morgen machen wir uns nach italienischem Frühstück,
Cappucino und Cornetto (Hörnchen), leicht gestärkt
und körperlich leicht an den letzten Pass unserer Tour,
den Passo Nago. Über ihn sollen im Winter 1439 die Venezianer
sechs Galeeren und 25 kleinere Schiffe befördert haben,
um die Mailänder, die die Stadt Riva am nördlichen
Ufer des Lago besetzt hielten und die Zufahrt zum südlichen
See auf dem Fluss Mincio versperrten, zu Wasser anzugreifen und
natürlich zu besiegen. Eigentlich war das ein ziemlich abwegiger
Ersatzschauplatz, denn Ziel sollte ja die Befreiung der von den
Mailändern umzingelten Stadt Brescia im Südwesten des
Sees sein. Die läppischen 287 Meter Höhe des Passes
schaffen wir ohne Schiffslast natürlich auf einer Arschbacke,
und bekommen zur Belohnung eine grandiose Aussicht auf den Gardasee,
der sich nach Norden wie ein Fjord in die Berge gefressen hat,
die im Süden flacher werden und in ihrem Dunst Brescia ahnen
lassen. Voller Begeisterung reißt Michael beide Arme nach
oben und stößt ein venezianisches Triumphgeschrei
aus, obschon dem Gefühl der Seeleute aus Venedig nach halsbrecherischem
Hochziehen ihrer Flotte natürlich nicht vergleichbar. Die
steil abfallende Straße nach Torbole versetzt uns in einen
Geschwindigkeitsrausch, nicht ganz ungefährlich für
schwer bepackte Räder, aber nur ein Klacks gegenüber
dem Herablassen der venezianischen Flotte. Unten am See telefoniert
Michael mit dem anvisierten Hotel Panorama in Albisano, einem
Bergdorf mit Kirchlein, das sich wie verliebt an den Hang des
Bergzugs Monte Baldo schmiegt. Im Spätsommer 2003 hatten
Renate und ich dieses Kleinod entdeckt und auf seiner Aussichts-Terrasse
die ruhige Schönheit seiner Umgebung eingeatmet, ein Ort
gebettet in Olivenhaine, bewacht von Zypressen, zu Füßen
der bergumsäumte Gardasee, das idyllische Städtchen
Torri del Benaco am Ufer. Uns wird ein Zimmer für drei Tage
zugesagt, allerdings erst als ich - Michael kennt seine als Sicherheit
angefragte Handy-Nummer nicht - dem Hotelier von einem Menü mit
meiner Frau auf seiner herrlichen Terrasse vorschwärme.
Der besiegelnde Schwur, eine Übertragung der Aussage „beim
Barte des Propheten“ ins Italienische fällt mir leider
zu spät ein. Künftig werde ich Überzeugungsversuche
mit dem inbrünstigen Ausruf „beim Busen meiner Mama“ krönen,
da dieses Bild jeden italienischen Mann erweichen lässt.
Nach zügiger Fahrt am See entlang nehmen wir eine Stärkung
zu uns, ich Penne all rabiata, was sich diesmal für Michael
bedrängend erweisen sollte, da als gardesanische Besonderheit
eine große Portion Knoblauch enthalten ist. Des Nachts
hilft da nur eine Rücken-Drehung auf den äußersten
Rand seines Bettteils. Zerknirscht erinnert er sich an ähnliche
Situationen mit seiner Frau Elsbeth, allerdings in vertauschten
Rollen. An Malcesine mit seiner Scaliger-Ruine vorbei erreichen
wir den kleinen Hafen von Torri de Benaco, der mit seinem Ambiente
Michael sofort verzaubert. Von einem Kaffee energetisiert machen
wir uns an die Auffahrt nach Albisano zu unserem Panorama Hotel.
Die mir aus der Erinnerung - Renate und ich waren ja letztes
Jahr mit dem Auto hier - kurze Strecke erweist sich als vier
Kilometer lange, steile und serpentinenreiche Straße, die
wir mit hängender Zunge, hinter jeder Kurve das Ziel erhoffend,
dennoch in einem Rutsch bewältigen. Oben im Hotel stellt
sich das telefonisch gebuchte Zimmer leider als recht klein heraus.
Weltmännisch, wie ich es bei meinem Freund Hans abgeguckt
habe, bringe ich meine Kritik an und bekomme problemlos ein größeres
Zimmer, allerdings nur für eine Nacht, verbunden mit der
Zusage, dort bleiben zu dürfen, sollte ein Gast stornieren.
Für den Moment jedenfalls beziehen wir unser großes
Zimmer nach einem Durst löschenden Bier auf der Traum-Terasse
des Hotels und zelebrieren dort bei untergehender Sonne ein erlesenes
Abendmahl: Zur Vorspeise Seehecht mit Polenta, dann Goldbrasse
mit Tomaten, Oliven, feiner Zitronensoße und gegrilltem
Gemüse. Zu meiner großen Freude gibt es sogar eine
Flasche Negresco, den Rotwein, den ich hier mit Renate so genossen
habe.
In Gedanken stoße ich mit meiner Frau an. Was war nicht
alles im letzten Jahr über sie herein gebrochen. 2003 hatte
mit einer Erschütterung begonnen, die sie nach außen
perfekt überspielte, der Diagnose von Knochenkrebs. Nach
elfjähriger krebsfreier Zeit - ein aggressiver Tumor hatte
Renate Ende 1991 befallen und erforderte die Entfernung ihrer
rechten Brust sowie eine anschließende Chemotherapie mit
einhergehender körperlicher Behinderung und psychischer
Verletzung - erfolgte ein erneuter Angriff ihres Krebs aus dem
Hinterhalt, die therapeutische Regel Lügen strafend, dass
der Krebs nach fünfjähriger symptomfreier Zeit als
besiegt gelten kann, eben nur kann. Beruhigt von der Ermutigung
eines Mannheimer Professors, Kapazität für Knochenkrebs,
man könne bei guter Behandlung durchaus mit dem Krebs alt
werden, verdrängten wir beide die hintergründige Gefahr
und reisten auf Renates ausdrücklichen Wunsch im Spätsommer
an den Gardasee nach Gargnano. Dann, Mitte November 2003, löste
die weitere Diagnose „Metastasen im Gehirn“ ein emotionales
Erdbeben bei uns aus. Meinen Freund Hans traf das harte Los,
Renate diesen Befund zu vermitteln. Nach zehnwöchiger Leidenszeit
fällte die rapid fortschreitende Erkrankung im Januar des
neuen Jahrs Renates Todesurteil: Bauchspeicheldrüsen-Krebs.
Es könne noch drei Tage, vielleicht drei Wochen dauern,
mutmaßte der behandelnde Oberarzt der Strahlenklinik im
Ludwigshafener Klinikum. Am 1. Februar 2004 war Renates Kampf
gegen den übermächtigen Feind verloren.
Michael geht am heutigen Abend beinahe andächtig mit dem
Wein ins Gebet, ohne zu ahnen, welche Gefühlskreise der
Negresco bei mir auslöst. Für mich geht ein vielschichtiger
Tag zur Neige, der gestern und heute, Lebenslust, Liebe und Leid
miteinander verbindet.
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