Leseprobe


„„Woouuw“, entfuhr es mir aufrichtig. Herr Heinzmann hatte den Aussteiger offensichtlich bei der Beschaffung des Interieurs unterstützt. Während ich noch mit offenem Mund das Warenangebot sortierte und Herr Feldmann geduldig eine ältere Frau bediente, erfasste ich auf einer der beiden Tischplatten ein Sprüchlein, das wohl ein Freigeist dorthin gepinselt hatte und so auf die erstaunliche Einrichtung aufmerksam machen wollte:

„Seht die Tapete an der Wand,
das Häkelset am Thekenrand,
da geht der Griff, ich schwör es dir,
ganz wie von selbst zum Weizenbier!“

„Das gibbdsd doch nedd, das glaab ich jo nedd, Diedä, ei sach bloß du bisd widder im Land!? Ridda, komm‘ doch emol, ich muss der emol jemand weise!“
Ingo, der jetzt seine Hände auf meine Schulter gelegt hatte, zeigte der herbeigeeilten Ridda strahlend seine Wunderwaffe, die Zahnlücke, und stellte mich mit großer Geste vor. „Das Ridda“, wandte er sich an seine Co-Pilotin, „das is de Diedä, von dem ich der ja schon verzähld hab. Ei dass is ja e Üwwerraschung, Diedä!“, drehte er sich jetzt wieder zu mir und gab, ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen, bei seiner Ridda drei Kaffee in Auftrag. „Ihr drinkt doch en Kaffee?“, stellte er fest und schob uns an einen der beiden Tische im Restaurationsbereich des Kramladens. „Diedä, Bodo, kann ich euch sonst noch was anbiede, e Worschdbrödche vielleichd oder e Nuggadd Schdügg?“
Während Herr Heinzmann sofort einwilligte, bat ich um eine kurze Verschnaufpause und fragte, ob er, Ingo, hier im Laden eine Toilette hätte. Und tatsächlich - hinter dem Lottopult führten zwei Stufen zu einem Gästeklo.
Auch hier oben, im grellen Licht einer Neonröhre, konnte man den Heinzmann‘schen Einfluss unschwer erkennen. Das eigentliche ,Stille Örtchen‘ nämlich, das sich an einen engen Vorraum mit Waschbecken anschloss, wurde durch eine Schleiflacktür begrenzt, die lediglich bis auf etwa 40 cm an den Fußboden heranreichte, was auf ein besonders günstiges Angebot hindeutete und den Blick auf die intimsten Kleidungsstücke eines potentiellen Nutzers preisgab. Aber und dies muss man den beiden Einzelhändlern zugute halten, die gleichzeitige Benutzung der Toilette durch mehrere Kunden war aufgrund der drängenden Enge so gut wie ausgeschlossen. Trotzdem hatte ein kreativer Kopf auf der Innenseite der zu kurz geratenen Tür, die jetzt sperrangelweit offen stand, die Worte vermerkt: ,Beware of Limbo Dancers‘.“

...

„Eichendlich kann der kei zwaa Leud ernährn. Unn desweeche, werd ich aach wahrscheinlich bald serigg komme. Awwer saach noch nix! Es is noch nedd sicher. Ich muss es nur bald endscheide. Der unbezahld Urlaub gild nur für ei Jahr unn das es bald erumm! Manchmol war es ja aach schee, do onne. Wann de Bodo uns als morjens sein Geschichdsunnerrichd gegewwe hadd, gelle? Wann die Lilo unn die Susanne so geschpannd geguggd hawwe. De Praacher Fensderschdurz oder die Dolchschdoßlegende. Oder die Schlachd bei Ausderlidz, wo die Russe unn die Ösderreicher vom Napoleon off de Sagg gekriechd hawwe. Bei unserm Privatdozent Heinzmann hab ich es erschde Mal gabierd, wie schpannend Geschichde sei kann. Unglaublich, was der alles wussd! Unn wie schad, dass der das ned beruflich auslewe konnd, unn in unserm Büro versauerd iss. Im wahrsde Sinn des Wordes! Als Geschichdslehrer wär der unschlaachbar gewese! De Bodo war wirgglich de geborene Hisdorigger! Off de anner Seid war er aach manchmal nichd vermiddelbar! Der hadd vielleichd noch e Ding gebrachd, bevor ich ford gegange bin. Des war de Hammer!“
Geistesgegenwärtig verlangte ich nach einem Kaffee, weil ich ahnte, dass die nun kommende Story eine stimmungsvolle Atmosphäre brauchte.
„ Als ich aan Middag von de Kandiin serigg kam, hörd ich schon von weidem es Gabi aus Richdung Teeküch kreische. Das der Bodo doch des ledzde Ferggel wär, hadd se sich offgeregd. Das wär nichd se glaawe! Unglaaauuublich! Ihr däde oifach die Wordde fehle. So e Sauerei! Korz denaach kam es Lilo hinnerher und hadd die Bagge offgeblase. ‚Ekelhaft‘, hadd se gewürgt, un ob ich wüssd, wo sich de Bodo rumdrigge dääd. Was dann los wär, wolld ich wisse. Das könnd se mer ned erzähle, das müssd mer sehn un ich soll aafach in de Kühlschrank gugge. Ich also de Kühlschrank in de Teeküch offgemachd un wie soll ich‘s saache. Ich hadds erschd gar ned gesehe. Ich dachd, dem is vielleichd was verschimmeld do drin. Weid gefehld, Diedä‘, bog er sich jetzt wie ein Flitzbogen, um sich gleich darauf wieder zu strecken und den giftigen Pfeil abzuschießen: „Der Knaller hadd doch taadsächlich e Röhrche mid err Koodproob von sich da drin lieche gehabbd. Zur Frischhaldung! Das mussd du dir vorschdelle. Der war am Daach devor beim Doggder gewese unn hadd sich unnersuche lasse. Unn de Doggder hadd gesaachd, das er e Schduhlproob von em brauche dääd und hadd em das Röhrche mid haam gegewwe. De Bodo konnd awwer ned dehaam, sonnern erschd am annern Morjenn em Büro. Unn hadd dann das Röhrche bis zur Middaachspaus, wo er‘s beim Doggder widder abgewwe solld, kaald geleechd. Der hadd nadierlich geglaabd, das mergd keiner. Wer guggd aach schon bei so em Röhrche genauer hie. Awwer es Gabi had de Naame un es Geburdsdadum da droff gelese un soford en Schreikrampf gekriechd. Aach Godd, war das e Offreechung! Die wollde zum Personalrad un alles. De Häbbed hadd se grad noch so offhalde könne un hadd de Bodo taadsächlich in Schuzz genomme. Was die annere Abdeilunge saache dääde, hadd er gemaand. Un das solld besser unner uns bleiwe.
De Bodo mussd sich dann endschuldiche un fuffzich Euro en die Kaffeekass‘ zahle. Der hadd vielleichd gemauld. Awwer es ging jo ned anners. Drodzdem hadds hinnerher jeder gewussd un sich beömmeld. Ich glaab, der hadd bis heud nedd verschdanne, dass das Scheiße war, was er do gemachd hadd. Im wahrsde Sinn des Wordes! So Röhrchen wär‘ n doch e sauwer Sach. Die wärn doch fest verschlosse unn hygienisch einwandfrei, hadd er gesachd. Unn wie er das sonst hädd löse solle. Awwer die Fraach blieb offe!

...

Augenblicklich schnellte die Raumtemperatur dem Siedepunkt entgegen und auch mir wurde bei der Antwort der westerwälder Pragmatikerin wohlig warm ums Herz. Einzig Frau Karazai ließ ein ,Igittigitt, ekelhaft!‘ vernehmen und Frau Ruhrmann wollte wissen, was denn um Himmelswillen ,Manschesdern-Huose‘ seien.
So gelöst plätscherte der Vormittag dahin, bis schließlich Herr Bert seinen Silberrücken durch die Tür zwängte und die Runde grob an ihre Pflichten erinnerte.
Gleich würde ein Inspizient durch die Abteilung kommen und sämtliche Elektrogeräte auf ihre Sicherheit hin überprüfen. „Der wird bestimmt Bodos Kühlschrank unter die Lupe nehmen“, zeigte sich Herr Bärlauch ahnungsvoll.
Und tatsächlich, er sollte Recht behalten! Eine halbe Stunde später erschien ein wichtig aussehender Herr, ging von Raum zu Raum und nahm alle elektronischen Geräte in Augenschein. Radios, Steckdosen, Kaffeemaschinen und eben auch den Kühlschrank von Herrn Heinzmann. Angeregt durch die Bärlauch‘sche Prophezeiung schob ich mich neugierig hinter ihm her, mitten hinein in das Reich des Preisfuchs‘. Dessen erhitztes Haupt umkurvten, wie gewöhnlich, einige Obstfliegen. Diesmal allerdings in serpentinenförmige Bahnen, die auf einen gewissen Argwohn der Tiere hindeuteten. Vielleicht war Herr Heinzmann tatsächlich in der Lage, das Kraftfeld seiner Schädelplatte zu beeinflussen und, wie es der Hobbyzoologe Feldmann einmal ausgeführt hatte, den jeweiligen Gemütslagen anzupassen.
Die Stimme des Inspizienten riss mich aus meinen Betrachtungen.
„Was ist denn das für ein Teil?“, deutete der Fachmann für Arbeitssicherheit unverblümt auf den mit Strukturfolie beklebten
Kasten, der auf dem Lüftungsschacht der Heizung vor sich hin brummte und brav einen Sechserpack Pilsbier kühlte. „Was soll das schon sein, das ist ein kleiner Kühlschrank, um mal was kalt zu stellen“, erwiderte Herr Heinzmann wahrheitsgetreu und sprang seiner Schatztruhe zur Seite.
„ Sind Sie noch ganz knusper?“, entfuhr es dem Eindringling, dann riss er den Stecker aus der Verteilerdose. „Das ist doch wohl nicht ihr Ernst - Sie können doch nicht diese Bastelarbeit ans Netz hängen! Die bettelt ja um einen Kurzschluss!
Schneiden Sie sofort das Kabel durch!“, holte er Atem, sammelte sich aber gleich darauf wieder. „Das tut mir leid, aber das kann ich nicht durchgehen lassen. Beim besten Willen nicht“, warb er um Verständnis und reichte dem staunenden Heinzmann eine Kabelschere. Grummelnd kam dieser der Aufforderung nach und durchtrennte das Kabel. Schnell wollte ich meinem Idol von dem Ereignis berichten und drängte zurück auf den Flur. Beim Verlassen des Zimmers sah ich noch, wie auch die Kunstflieger ins Trudeln gerieten, so als hätte das Heinzmann‘sche Haupt augenblicklich sein Kraftfeld verändert.

...

Auch Herr Ruhrmann machte seine Sache ordentlich, wie den wohlwollenden Blicken des Silberrückens zu entnehmen war. Sein Vortrag präsentierte die hohe Qualität unserer Arbeit und die anfangs steife Atmosphäre entspannte sich mehr und mehr. Schließlich entwickelte sich sogar eine rege Diskussion über Sinn und Unsinn diverser Regelungen und Vorschriften. Die drei ,Hohen Herren‘ gaben sich verständnisvoll und volksnah.
Dies muss die Sinne meines Helden ein wenig vernebelt haben. Denn völlig unbedrängt schaukelte er schließlich den Satz hervor, es gäbe durchaus noch Einsparungspotenzial und Möglichkeiten der Effizienzoptimierung. Wie eine Ankerkette durchrasselte dieser Satz des Großmeisters uns Zuhörer. Woher er die Termini gefischt hatte, interessierte einzig mich und das auch nur am Rande. Alle anderen konzentrierten sich auf den chameleongleichen Farbwechsel der Bert‘schen Kopfpartie, erkannte der gewiefte Silberrücken doch sofort das Fadenkreuz in der Pupille des sich nach vorne beugenden Staatssekretärs. Auch Frau Mangold, die gegenüber Platz genommen hatte und die Farbspiele des Zampanos einfühlsam verfolgte, wurde kreidebleich. Ich registrierte diese Verfärbung ihrer Haut ins beinahe Tödliche. Denn man muss wissen, dass Frau Mangold von Haus aus bereits mit einer vornehmen Blässe ausgestattet ist, die Herr Feldmann gerne kommentierte. „Die hadd e schö Alabasderhaud, Diedä, das gefälld mer arch guud.“
Die Orgelklänge des Procol Harum Klassikers ,A Whiter Shade of Pale‘ durchwaberten mein Hirn und fast hätte ich die Textzeilen leise mitgesungen:

And so it was that later
as the miller told his tale
that her face at first just ghostly
turned a whiter shade of pale…‘

Leider blieb mir keine Zeit, die Tiefe und den Klangreichtum der Hammond Orgel weiter zu verfolgen, die von Matthew Fischer stoisch bedient wurde und deren Tonfolge an Johann Sebastian Bach erinnert.
„ Können Sie das näher erläutern?“, unterbrach Herr Zimmermann die Stille und legte sie aus - die Fußangel, auf die mein Liebling jetzt geradewegs zuschnürte.

...

Ingo parierte das gezwunge Lächeln der jungen Frau mit einem: „Nee, nee, war nur en Schbass, Fräulein. Mir nehme noch so zwei Zoller Bier! Gell Diedä, du nimmsd doch aach noch eins?“ Entschlossen presste er die Neige hinab und reichte ihr den geleerten Krug.
„Von weeche Sauberkeid, wo mers grad dadevon hadde. Ich hadd do emal so e ,Begegnung der dritten Art‘“, beugte er sich näher an mich heran und sah mir eindringlich in die Augen.
„ Das bleibt awwer unner uns, Diedä!“, instruierte er mich streng, seine intimsten Erlebnisse unbedingt für mich zu behalten. Verzeih mir Ingo - aber ich finde, diese Erfahrungen gehören unbedingt einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Gerade die Jugend kann hieraus ihre Schlüsse ziehen und sich so vielleicht besser gegen die Unwägbarkeiten der Zukunft rüsten. „Ich hadd emal, es iss schon mehr als zwanzich Jahr her, e Techdel Mechdel mit Aaner aus de Pfalz. Die hadd ich in Bad Dürkheim off er Kerb, wie die da saache, kennegelernd. Unn die war vielleichd se rollich, das glaabsde ned. Da sinn mir afach aus em Fesdzeld enaus un hawwes in so em Gardeschubbe‘ gedriwwe. Schdockdunkel wars! Na ja, off jeden Fall hadd ich hinnerher Filzläus. Kannsde der das vorschdelle? Ich war grad emol Zwanzich, also noch in vielem unoffgeklärd. Ich wussd mer nedd se helfe. Zum Doggder konnd ich nedd gehn, ich kannd ja die Arzthelferinne in all de Praxe im Ord unn aach in de Umgewung, un sowas bleibd ja nedd geheim. Das war mer vielleichd se peinlich! Also, was solld‘ ich mache?“, spannte er den Bogen jetzt noch ein Stück weiter und quälte mich mit einer extra langen Atempause.
„Was häddsd du dann gemacht, Diedä?“
Auswandern, Selbstmord - ich wusste es nicht und blieb die Antwort schuldig!
„Dann hadd ich die Idee! Ich habb ja so e bissche mid Schweißfüß se duun und nemm‘ do degeje ,Fussfrisch‘. Da iss Formalinalkohol drin. Damid hadd mer früher Leiche gewasche. Ob mer die heud noch dademid wäschd, weiß ich nedd. Off jeden Fall zerschdörd das Zeuch sämdliche Keime unn Baggdeerie unn häld mer so die Füß in Schuss. Das leechd so en Film üwwer die Haud un erschdiggd quasi alles im Keim. Unn da habb ich gedachd, vielleichd hilfd es ja auch geeche die Viecher um die Weichdeile erum. Ich wills abkürze!“, entschied er sich jetzt leider gegen die ,Long Version‘ und kam direkt auf den Chemiewaffeneinsatz zu sprechen. „Jedenfalls hab ich so e richdich Ladung abgefeuerd. Üwwerall. Dann hadds so zwaa, drei Segunde gedauerd. Unn dann gings los! Diedä, ich saach ders, ich dachd mir verädzd es die gesamd Unnerleibsregion. Ohne Uuz, das hadd gebrannd wie Höllefeuer. Ich bin durch die Buud‘ gehübbd wie en Flummy unn hab‘ mer die Nüss‘ gehalde. Furchdbar! Hasde den Film ,Apocolypse Now‘ gesehn? This is the End? Die Ammies, die Gangster, midd ihrem ,Agent Orange‘. Dem Sauzeuch! Das alles ging mer in dem Momend durch de Kobb.“ Hier warf er wohl einiges durcheinander, griff aber entschlossen zum Krug und leerte ihn in einem Zug, so als wollte er das ganze Erlebnis final hinunterspülen. Dann rappelte er sich noch einmal hoch und grummelte mir ein ,Soviel zu de Pfalz‘ entgegen. Von der Geschichte, die ich hier als ,Directors Cut‘ wiedergebe, war ich hin und hergerissen.
Ungestüm rüttelte sie an meinen Grundfesten. Sollte ich los kreischen? Oder hatte jemand der übrigen Gäste unser Gespräch belauscht und würde meine mangelnde Kontenance am Ende missbilligen? Noch bevor ich mich für eine würdige Reaktion entschließen konnte, kam er quasi zum Nachspann. „Des besde war, Diedä, es hadd geholfe. Ich habb die Prozeduur noch drei-, viermal wiederhold, dann warn se ford. Endgüldich!“ An dieser Stelle hauchte mich ein Grimmscher Geist boshaft an und ich musste kurz der Bremer Stadtmusikanten gedenken: ,Einen besseren Ort als diesen finden wir allemal‘! Noch bevor meine Einbildungskraft weiter mit mir dahin segeln konnte, befahl er mich zurück an die Leine. „Me müssd tatsächlich en Artiggel ins Apothekerheffdche sedze: ,Lausfrei ohne Arzdbesuch‘!“ Hier hatte er nun endgültig sein Pulver verschossen und streckte der Bedienung mit letzter Kraft einen Arm entgegen."