Leseprobe

 

Erika Maaßen

 

Du glaubst, du kennst mich –
täusch dich nicht!
Hab nicht nur ein Gesicht.
Meinst du, du kennst eins,
schwindet es.
Kenn mich oft selber nicht.


Spiegelbild


Ich vermisse dich. Ich sehne mich immer noch nach dir. Du warst mir mein Spiegel. Ich brauchte keinen anderen, ich hatte ja dich. In deinen Augen nahm ich mich wahr. Ich war schön, weil du mich liebtest. Wenn ich die Augen schloss, wenn deine Arme mich hielten, war ich Ich. Wenn ich die Räume durchschritt auf dem Weg zu dir, streifte ich mein Spiegelbild nur flüchtig. Deine Stimme lockte mich und schmeichelte mir. Untrennbar das Ich vom Du.
Lang ist das her. Heute hallen meine Schritte durch die ohne dich stillen, leeren Räume. Blind ist der Spiegel. Wenn ich in einsamen Stunden an ihm vorbei komme, begegnen mir die Schemen der Vergangenheit. Sie drehen mir den Rücken zu. Keiner schaut mich an. Wohin sind alle entschwunden? Ist es falsch, alleine dich zu lieben? Jetzt bleiben mir oft nur Erinnerungen. Und ich fröstele.
Letzte Nacht träumte ich.
Wir gingen nebeneinander. Abschiedsschmerz ließ uns verstummen. Wir wussten, es war ein Abschied für immer. Plötzlich eiltest du ohne Gruß fort. Ich rief dich, doch kein Ton kam über meine Lippen. Ich wollte dir folgen, aber ich kam nicht von der Stelle. Verzweifelt blieb ich stehen, verwurzelt im Kopfsteinpflaster. Plötzlich ließest du einen Krückstock aus deiner Hand fallen. Dann drehtest du dich um, liefst auf mich zu, nahmst mich in deine Arme. Wärme umhüllte meinen Körper. Alles wird jetzt gut, ging es mir durch den Sinn.
Morgens, beim Erwachen, fühlte ich mich seltsam getröstet. Heute fange ich noch einmal neu an.
Ich trete vor den Spiegel. Blind ist er, versponnen und verwoben. Was erwartet mich dahinter? Zaghaft strecke ich einen Finger aus. Berühre das Gespinst der vergangenen Zeit. Streife es ab. Kann ich meinen Anblick ertragen? Ohne ein Du, nur ich? Bin ich ein richtiges Ich ohne ein Du? Ich finde mich und schaudere. Warum habe ich mich nie spüren können ohne ein Du?
Die Schemen im Hintergrund, die mir den Rücken zuwenden, scheuche ich fort. Nur die, die mit mir Augenkontakt halten, begrüße ich mit einem „Hallo, Du“. Und das bin an erster Stelle ich selbst. Ich sehe mir in die Augen. Erkenne mich, halte mich aus.
Ich stelle fest, es lohnt sich noch, zu leben.