Leseproben
(...) „Komm, Ingo, erzähl noch e Geschicht von L.
A.!“ Mit dieser Aufforderung wird Ingo in letzter Zeit
immer wieder einmal animiert, ein wenig Abwechslung in unseren
Alltag zu bringen. Meist lässt er sich auch nicht lange
bitten und streut ein wenig Salz auf die karge Stulle unseres
Arbeitsalltags. „Hab‘ ich euch schon emal was vom
Ausländerwohnheim in Lange Aubach erzähld?“,
begegnete er so eines Tages der Aufforderung und fuhr sogleich
redselig fort: „In dem Heim, war, wie mein Schwaacher mer
erzähld hadd, aach emal en Inder unnergebrachd. Waasde so
en Sikh, die kennsde doch, die sich ned rasiern, un immer so
en Turban offhawwe!“ wandte er sich jetzt gezielt an Herrn
Heinzmann als ob er sich zunächst dessen ethnographischen
Kenntnissen versichern wollte. „Kenn ich, kenn ich!“ zeigte
sich Herr Heinzmann sofort auf Ballhöhe. „Ja, un so
Aaner stand emal owe off em Balkon von deme Wohnheim und had
sein Gebedsdeppich oder Läufer ausgeschüddeld. Mid
so ruggartiche Bewechunge“, imitierte er jetzt gestikulierend
den Mann vom Volkstamme der Sikhs, um ja nicht die Pointe zu
vermasseln. „Un unne off de Gass schdand so e Bäuerche
vo Lange Aubach un had dem do debei zugeguggt. Nach er Zeit,
wie er den so beim Ausschüddele betrachd had, had er em
dann zugeruufe: „No, wej do, springd e ned uua?“ Noch
bevor der Erste unserer Runde dieses Scherzchen in seiner ganzen
blödsinnigen Schönheit erfassen konnte, wieherte Ingo
auch schon los und dankte vorab dem Schöpfer für diese
gelungene Pointe: „Allmächdicher, das muss mer sich
emol bildlich vorschdelle!“ Endlich hagelte es von allen
Seiten Einverständnis und Ingo saß glücklich
und glucksend im Kreise dieser fröhlichen ja von ihm quasi
erlösten Runde. (...)
(...) „Das bleibd awwer unner uns“, schwor er mich
einleitend auf absolute Diskretion ein, bevor er endlich die
Spannung zu lösen begann. „Ei, mei Oma, hadd das früher
aach immer mal gemachd“, entpackte er zunächst verschlüsselt
die in ihm rumorende Geschichte.
„
Was, gemachd“, fragte ich drängend.
„
Ei Grünkohl unn Pinkel!“
„
Ja und“, bohrte ich ungeduldig weiter.
„
Ei dass is mir emol ganz schee zum Verhängnis geworrn; ich
hadd nämlich emol e Zahnarzdhelferin im Aache (zunächst
klang es in meinem Ohr wie „in Aachen“, sollte aber
tatsächlich „im Auge“ heißen) und da hab
ich merr emol, nur um die kennesellerne, e paar Termine gewwe
lasse, zur Paradonthosebehandlung, verstehsde, das schdand sowieso
an?“ Natürlich verstand ich überhaupt nichts
und sah mich gezwungen, ihn in meinem Verhör noch härter
ran zunehmen. „Was bitte, hat denn Kohl und Pinkel mit
deiner Paradonthose zu tun“, glaubte ich ihn sortieren
zu können.
„
Ei wards doch abb, es kommd jo gleich. Mir hadde nämlich
awends devor bei meiner Oma Grünkohl unn Pinkel gegesse
und hadde aach e paar Schnäbbs da dabei gedrunke. Am nächsde
Morjenn hadd ich dann den Paradonthose Termin. Unn als ich do
so off dem Stuhl laach, hadd ich, unn dass kannsde de mer glaawe,
Diedä, Schmerze wie ungescheid, vor lauter Blähunge
- fürchderlich! Unn an Erleichderung war nedd se denke,
wann de verschdehsd was ich maan? Wenn ich do ahn hädd fahrn
lasse, wärs ausgewese, bevors üwwerhaabd angefange
hadd. Ich also gekämpfd unn gepedzd, wie der Doggder und
die Anner do an mir rimm gemachd hawwe. Waasde wie das iss, e
Pradonthosebehandlung?“ Nein, ich wusste es nicht aber
mein Freund, der seine Höllenqual noch einmal mimisch aufbereitete,
ließ mich nicht lange in Unkenntnis. Jetzt war er im Redefluss
und nichts konnte ihn aufhalten. „Die Geräusche sinn
aafach ekelhaft“, jonglierte er beim Adjektiv kurzerhand
ins Hochdeutsche, bevor er erneut in seinen Heimatdialekt verfiel. „Das
Schaabe und Kradze unn glaabsde, ich hadd Schiss, dass se mich
vielleichd nedd richdich betäubd hawwe könnde, unn
da dazu die Hölle Blähunge, ich war kladschnass geschwidzd.
Wie Krämpf, waasde - irgendwann is mer dann aaner rausgerudschd!
Ich glaab zwar geräuschlos, ich konnds jo nedd werglich
hörn, weje dem Kratze und Schaabe, awwer mit Schmagges!
In dem Moment wussd ich soford, jedzz is es aus! ‚Gehds?‘,
hadd de Doggder gefraachd unn die Anner hadd mich sogar e bissche
oogegrinsd. Ich hab noch tapfer geniggd obwohl ich wussd, dass
de ‚Kaun Daun‘ schon lief. Die letzte Zahle, von ‚Faiv‘ bis ‚Siro‘,
habb ich gedanklich mit enunner gezähld. Aach Godd, war
das peinlich, Diedä, ich kann ders gar nedd saache. Als
die Granad sich in dem warme Raum endfalld hadd, wars mucksmäuscheschdill
und de hassd nur noch de ‚Schwazze Engel‘ durch de
Raum schweewe hörn. Ich wär am liebsde im Erdbodde
versunke. Ich konnd nur noch die Aache zumache und alles um mich
erimm ausblende.“
Der letzte Satz des Gedichtes ‚Die Nebensonnen‘ aus
Schubert‘s ‚Winterreise‘: ‚Im Dunkeln
wird mir wohler sein ...‘ schoss mir noch von irgendwoher
durch den Kopf, bevor mir fast die Pizza aus der Nase gekommen
wäre. Mitleidlos und unaufhaltsam brach sich das innerliche
Vergnügen über das tragische Missgeschick des Freundes
Bahn. Gottlob fiel der Granatenexperte bald darauf in mein wieherndes
Lachen ein, stammelte noch ein „das, Diedä, das verschdeesde,
is hochnoodpeinlich“ und so kugelten wir gemeinsam noch
eine Weile dahin, bevor uns die Pflicht wieder zurück an
die Arbeit rief. (...)
(...) „Wenn der Feldmann bei ihne aufkreuzt, Frau Karazai,
soll er gleich emal ‚nach hinne‘ komme“, hörte
ich die Stimme unseres Zampano‘s aus dem Geschäftszimmer
poltern und spürte, wie eine ahnungsvolle Neugier von mir
Besitz ergriff. Herr Bert, unser Bereichsleiter, der in seiner
Abwesenheit nur Herbert genannt und bei Anwesenheit meist gemieden
wird, hatte das Ventil geöffnet und verschaffte sich zischend
Erleichterung: „Und der Heinzmann soll gleich mitkomme!“
Mit ‚nach hinne‘ war das Eckzimmer am Ende des Ganges
gemeint, dass wegen seiner Lage von den geographischen Wieseln
unter uns auch ‚Indien-Zimmer‘ genannt wurde und
Herrn Bert als Büro und Wohnstatt diente. Kurz nach dieser
Böe stand auch schon Frau Karazai, der gute Geist unseres
Geschäftszimmers, in der Tür und bleckte mit den Zahnspangen: „Wischen
Schie, wo der Feldmann ischt? Er scholl gleisch mal zu Herrn
Bert kommen und den Heinzschmann scholl er auch mitbringen.“ Nein
ich wusste es nicht und hatte ihre Ansprache zwischen all den
Zischlauten auch nur deshalb verstanden, weil ich sie bereits
zuvor aus dem Munde des gefürchteten ‚Silberrückens‘ vernommen
hatte.
Was war passiert? Ich befürchtete das, was sich später
auch tatsächlich als Schreckenswahrheit bestätigen
sollte. Als Herr Feldmann von seinem kleinen morgendlichen Ausflug
zurückkam, wurde er von Frau Karazai sogleich auf Ballhöhe
gebracht. Offenbar hatte er am Kiosk um die Ecke sein Losglück
versucht, denn er barg noch einige der Rubbel Lose linkisch in
der Hand. Herr Bert, dessen Zimmertüre offen stand, hatte
die Rückkehr des Rubbelkönigs bereits vernommen. „Herr
Feldmann!“, bellte er über den Flur.
„
Ei, der soll sich was unnerleje“, raunte mein Liebling
aufmüpfig und auch Herr Heinzmann, der gerade aus Richtung
Teeküche zurück in sein Büro schlenderte, fühlte
sich noch unbedrängt und witzelte vorlaut: „Ingo,
du sollst zum Chef komme, es ist vertraulich!“ Nur schwerlich
und das gebe ich unumwunden zu, konnte ich meine Neugier im Zaum
halten. Auch Herr Heinzmann wurde jetzt darüber informiert,
dass er sich eher auf dünnem Eis befand und so schlitterten
die beiden auf wackligen Beinen ins indische Zimmer. Nach einer
gefühlten viertel Stunde, während dessen die unterschiedlichsten
Mutmaßungen über den Flur geisterten, kamen sie knurrend
zurück und Ingo legte in meinem Büro eine kurze Verschnaufpause
ein.
„
Der spinnd doch, der hadd se doch nedd all“, pulsierte
es aus ihm heraus und krachend ließ er sich in einen Stuhl
fallen.
„
Wer spinnt?“ versuchte ich die rollende Lawine irgendwie
zu kanalisieren.
„
Ei de Häbbädd, jezz soll ich den Vordraach vom Jürschen,
do in Wien, off dem ‚Indernazionale Schdradegie Meeding‘,
halde. Weil der sich krank gemeld hadd. Da solle se doch aafach
ganz absaache, den Quaddsch. Wie der sich das vorschdelld. Ei
de Bodo kennd ja midd faahrn unn mich unnersschdüzze! Es
wär jo sowieso schon alles vom Jürschen vorbereid.
Ich hädd em jo selbsd debei geholfe. Ich habb noch gesaad,
dass ich so was noch nie gemachd hädd, awwer waasd jo, wie
er iss, do kannsde em Ochs ins Horn pezze. Aamol wär immer
es erschde mol unn ich soll gleich oofange, alles sesamme se
schdelle. Unn die Frau Karazai hädd aach schonn ess Hodell
gebuuchd! (...)
(...) Am anderen Morgen trafen die beiden Strategie Experten
gestriegelt und gebügelt im Geschäftszimmer ein.
Herrn Heinzmann umwehte ein olivfarbener Lodenmantel, dessen Ärmel
nicht ganz bis an die Handgelenke heran reichten, den er aber
und da waren sich alle sicher, als ‚super Schnäppchen‘ erworben
hatte. Und der zu dem milden Frühlingsklima tadellos passte.
Herr Feldmann hatte für den internationalen ‚Erfahrungsaustausch‘ seine
maßgeschneiderte ‚Indiana Jones Jacke‘ sowie
die dazugehörenden Stiefel gewählt. Für ihn
war der Ausflug ins Nachbarland tatsächlich ein Abenteuer
und wozu sonst hatte er sich die Jacke anfertigen lassen. Alle
quallten auf die beiden ein, gaben unnütze Ratschläge
und besorgte Kommentare von sich: ‚Habt Ihr auch alles:
Voucher, Ticket, USB-Stick?‘ „Und ein paar Unterhose
zum wechsele“, zeigte sich Herr Bert sehr wohl humor-
und gleichermaßen teilnahmsvoll.
So verstört traten die Beiden endlich die Reise an und verließen,
dicht gefolgt von zwei Rollenkoffern, die Abteilung. Frau Mangold
und ich begaben uns zum Fenster um ihnen solange wie möglich
nahe zu sein.
„
Die konnten nicht mal zwei Einzelzimmer bekommen. War alles voll“,
zeigte sie sich bestens informiert und ergänzte sinnierend: „Ich
wollte, bei aller Liebe und behalt das bitte für dich, mit
Bodo kein Doppelzimmer teilen.“ Noch bevor ich wegen der
erwähnten Liebesgefühle nachhaken konnte, stiefelten
die beiden Leidensgenossen auch schon drei Stockwerke tiefer
aus dem Gebäude. Herr Heinzmann, dieser Famulus der Sorglosigkeit,
bedeutungsschwer voran und Indiana Jones folgte schicksalsergeben.
Die Rollen des Heinzmannsch‘en Koffers verrieten eine leichte
Unwucht, denn das Gepäckstück begann in regelmäßigen
Abständen bedrohlich zu wackeln. Der Preisfuchs schnaubte
dann kurz und brachte es mit einem geübten Tritt wieder
auf Spur. „Den hat er beim Kauf des Lodenmantels für
lau dazu gekriegt“, ließ mich Frau Mangold erneut
an ihren Gedanken teilhaben und fügte pathetisch hinzu: „Da
rollen sie hin! Ingo und Bodo starten für Deutschland!“
Der Frühlingsstimmung ‚Blaues Band‘, das die
beiden zart umflatterte, schlang sich ganz allmählich um
meinen Hals und zog sich schließlich zu. (...)
|