(Auszug aus der Erzählung mit dem ersten Platz)

 

Karl-Otto Kaminski


Halef


Ein paar Dutzend räudiger Palmen markierten den Rand der Sahara. Sie wirkten so bedauernswert vernachlässigt wie meine Büropflanzen, wenn die Kollegin während meines Urlaubs mal wieder über Privattelefonaten und Nagelpflege das Gießen vergessen hat. Der Sand hatte hier nichts Dramatisches. Harmlos dehnten sich die Dünen Südtunesiens gegen den Horizont. Ein leiser Westwind ließ Milliarden Sandkörnchen wispern.
Zum ersten Mal in meinem Leben saß ich auf einem Kamel, genauer gesagt, auf einem streng riechenden Dromedar. Es erinnerte stark an ein übermäßig geliebtes, zerfleddertes Stofftier. Von seinem fahlen Fell hing in unordentlichen Wollfetzen die Winterbehaarung herab. Die raue Satteldecke kratzte an meinen Waden. Ich hätte doch die langbeinigen Jeans anziehen sollen, keine Shorts.
Als Junge hatte ich bei der Lektüre von Karl Mays Abenteuerbüchern oft davon geträumt. Nun ritt ich endlich selbst durch die unendliche Wüste, die gewaltigste dieser Erde. Ein kleinwüchsiger Tunesier führte das Tier an einem Lederhalfter. Ich vermute, dass der Mann den roten Fez nur trug, weil der sich auf Fotos gut machte. Seine sonnengegerbte Haut und die Djellaba, ein grober, verstaubter Umhang unbestimmbarer Farbe, gaben dafür nichts her.
Neben und hinter mir schaukelten etwa zwanzig weitere Touristen über die bequeme Piste, jeder mit einem einheimischen Begleiter, der seinen jeweiligen Trinkgeldlieferanten an der Leine hatte, während er selbst zu Fuß dahin trottete. Weit würden wir uns auf dieser geruhsamen zweistündigen „Mini-Wüsten-Safari“ von der Oasenstadt Douz sicher nicht entfernen. Aber immerhin ritt ich durch die Sahara.
Plötzlich knatterten zwei verbeulte Mopeds aus den Dünen auf uns zu, waghalsig auf den Hinterrädern balancierend, Lenker und Vorderrad hochgerissen. Halbwüchsige aus dem Ort schienen an diesem Spätnachmittag ihren Spaß daran zu finden, mit ihren stinkenden, lauten Zweitaktern lachend und johlend in die Touristenherde zu stieben wie der Habicht in einen Hühnerhof, um ebenso rasch wieder in der sandigen Kulisse zu verschwinden.
Dieser unerwartete Überfall brachte unsere kleine Karawane in erhebliche Verwirrung. Die Tiere scheuten und rannten wild durcheinander, zerrten die Kameltreiber am Zügel hinter sich her. Die fluchten lautstark auf Französisch und Arabisch und versuchten, die erschreckten Biester zu beruhigen. Eine Frau wurde abgeworfen.
Mein Wüstenschiff hatte der Lärm offenbar so verstört, dass es sich los riss. Von den heiseren Verwünschungen und Haltebefehlen seines Führers verfolgt, galoppierte es wie gepeitscht von der Gruppe weg, hinein in die hellgelbe Dünenwelt. Ich hatte das Gefühl, plötzlich auf einem dieser ungebändigten Pferde zu sitzen, auf denen man Cowboys ihren Mut proben sieht. Mir fehlte jedes Gefühl für die wild schwankenden Bewegungen. Nur mühsam konnte ich mich oben halten. Noch nie in meinem Leben war ich geritten, schon gar nicht auf einem so exotischen Reittier. Ich wusste weder, wie man so was lenkt, noch wie man es anhalten kann. Panik verkrampfte mich. Ich versuchte, mich an irgendwelchen Riemen festzukrallen und hoffte inständig, dass diese ungewohnt schlingernde Entführung nicht zu lange dauern möge. Das Geschrei aus dem aufgeregten Durcheinander hinter mir wurde immer leiser und erlosch schließlich.
Hoffen und Warten verändern die Zeit. Sekunden blähen sich auf zu Stunden, Minuten werden zu Ewigkeiten. Die vermutlich relativ kurze Spanne, die ich angstvoll auf dem schaukelnd dahin galoppierenden Kamel hing, schien mir endlos. Sicher büßte ich in dieser Zeit für eine beträchtliche Anzahl meiner bis dato unerledigten Sünden.
Auf einen mir unverständlichen Zuruf aus dem Nichts blieb das Dromedar so plötzlich stehen, als sei es gegen eine unsichtbare Mauer geprallt. Ich suchte vergeblich Halt an Fell und Zaumzeug, hob ab, sah in Zehntelsekunden den Boden auf mich zukommen. Es gab ein dumpfes Geräusch, als ich bäuchlings aufschlug. Dass Sand so hart sein kann!
Benommen rappelte ich mich auf, fühlte nach, ob ich mir nichts gebrochen hatte. Gott sei Dank! Es schien alles intakt zu sein und an der von der Natur vorgesehenen Stelle. Aber mein Puls jagte. Das Kamel versuchte beruhigend an meinem linken Ohr zu knabbern. Ich wehrte das weiche, schaumtriefende Maul angeekelt ab.
Während ich mir den Staub aus Hemd und Shorts klopfte und von meinen Knien rieb, suchten meine Augen die nähere Umgebung nach der Ursache der brutalen Notbremsung ab. Hier waren die Dünen schon um etliches höher, als am Rande der Piste, die von den Touristen-Safaris genutzt wurde. Da machte mein ohnehin übertourig arbeitendes Herz einen entsetzten Stolperer. Vor einem der unsteten Sandberge schwebte gespenstisch ein schwarzer Kopf. Nur ein einsamer, körperloser Kopf! Irgendwo darunter bewegten sich geisterhaft ein Paar nachtfarbene Skorpione. Erst auf den zweiten Blick erkannte mein gelähmter Verstand sie als die zum Kopf gehörigen Hände. Der Rest des Menschen, denn nur darum handelte es sich hoffentlich, verbarg sich unter einem Burnus, der exakt die Farbe des Sandes im weichen Licht der späten Nachmittagssonne hatte. Die Falten imitierten das zarte Blau der Wellenschatten in den Dünen. Diese Person also, eine rabenschwarze, hatte den wilden Fluchtversuch meines Reittiers durch seinen plötzlichen, halblauten Befehl gestoppt und damit meine ungewollte Bauchlandung verursacht.
„ Bon jour“, grüßte ich heiser, immer noch verwirrt und atemlos. Ich fühlte mich wie nach einem Verkehrsunfall, wenn das Adrenalin seine Schuldigkeit getan hat und der Schock einsetzt. Noch hatte mein Gehirn keinen Platz für die Freude darüber, dass nichts Schlimmeres geschehen war. Dafür machten sich nun Dutzende meiner Nerven selbständig, flatterten unkontrolliert wie aufgescheuchte Insekten. Ich hatte keine Chance, sie zu bändigen.
Die Gestalt erhob sich. Noch immer sah es so aus, als schwebte dort vor der Düne ein Schädel aus Pech, als kröchen die zwei Skorpione schwerelos über den Sand. Erst im Näherkommen nahm das lange Gewand Konturen an. Der Dschinn, der Geist aus der Wüste, wurde nun zu einem wirklichen Menschen, aus dessen sandfarbener Kleidung das Gesicht und die Hände eines männlichen Afrikaners hervorschauten. ...