(Auszug aus den Gewinner-Beiträgen im Literaturwettbewerb "Freundschaften
und Begegnungen")
Andreas Haller
Eine andere Welt
Durch eine schmale Öffnung stieg Jana hinauf aufs Dach der
Pont du Gard. Ich war dicht hinter ihr, hatte aber Schiss, ihr
aufs schmale Dach zu folgen. „Höhenangst“, würde
ich später achselzuckend erklären. So streckte ich nur
meinen Kopf aus der Luke. Der Mistral fegte eisig über die
Pont du Gard hinweg. Ich hatte Angst um Jana. Fürchtete, der
Wind würde sie in die Tiefe reißen. Doch sie schien
den Wind zu ignorieren. Schritt für Schritt ging Jana auf
den ungesicherten Rand der Brücke zu. Sie legte den Kopf in
den Nacken und schloss die Augen. Ihre Haare wehten ihr durchs
Gesicht als sie ihre Arme weit ausbreitete. Es sah aus, als würde
sie fliegen. „Freiheit“, brüllte sie nach einer
Weile und der Wind trug ihren Ruf hinunter ins Tal. „Sie
ist glücklich“, dachte ich und schämte mich, dass
ich mich nicht mit ihr aufs Dach getraut hatte.
Das ist jetzt fast fünf Jahre her und es ist nicht der Anfang
dieser Geschichte. Aber immer wenn ich an Jana denke, und das passiert öfter,
als mir lieb ist, sehe ich sie oben auf der Brücke stehen,
mit ausgebreiteten Armen. Das Bild ist wie eingebrannt in meinem
Schädel und es ist das, was alle von ihr wissen sollten.
Und nun war sie tot.
Das Telefon klingelt.
„
Achim Stopperich“, melde ich mich ordnungsgemäß.
„
Hey Stopf“, sagt eine Männerstimme am anderen Ende der
Leitung. „Hier ist Miki.“
Noch bevor ich etwas erwidern kann, fährt er fort. „Hab
leider keine guten Nachrichten. Jana ist tot.“
Ich setze mich. Ich habe zwei Gläser Rotwein intus und mein
Hirn bringt „tot“ und „Jana“ nicht zusammen.
„
Tot? Wie meinst du das? Tot?“, stammele ich schließlich.
„
Ein Unfall. Sie ist abgestürzt. Mit dem Gleitschirm. Am letzten
Wochenende im Erzgebirge. Klaus hat mich gerade angerufen.“
Gleitschirmfliegen, dass passte zu Jana. Ich versuche, die Informationen
in meinem Kopf zu sortieren.
„
Wie hat Klaus das aufgefasst?“ Klaus war ihr Freund.
„
Er wollte nicht viel dazu sagen. Aber du kannst dir ja denken,
wie fertig er ist. Max ist jetzt fast vier Jahre alt, Jana und
Klaus waren eine glückliche Familie. Eine bessere kann man
sich kaum vorstellen. Und jetzt ist er alleine mit Max. Von heute
auf Morgen.“
Glückliche Familie? Schon immer war Miki ein Romantiker. Ich
ließ das mal so stehen.
„
Weißt du, wie es genau passiert ist?“, frage ich stattdessen.
„
Keine Ahnung. Ich wollte nicht weiter nachbohren. Nur so viel:
Die Beerdigung findet in zehn Tagen statt. Klaus würde sich
freuen, wenn du auch kommen würdest. Kommst du?“
Ich hasse Trauerfeiern. Sie erinnern mich daran, dass auch ich
eines Tages ins Gras beißen würde.
„
Natürlich komme ich“, antworte ich. „Es ist ja
auch eine gute Gelegenheit, euch wieder zu treffen.“
„
Stimmt. Auch wenn der Anlass echt mies ist. Und Jana nur noch in
unseren Gedanken bei uns sein kann.“
Wir sprechen noch kurz über dies und das. Doch es fühlt
sich unwirklich an. Schließlich verabschieden wir uns und
ich lege auf.
Ich schenke mir Wein nach und versuche zu verstehen, was Miki mir
erzählt hat. Ich kannte Jana seit sieben Jahren und ich erinnere
mich noch genau an unsere erste Begegnung.
Tom und ich hatten Miki in Potsdam besucht. Nun saßen wir
in einem Zug nach Güsen, wo Tom wohnte. Es war heiß,
die bordeauxroten Kunstledersitze klebten an meinen Oberschenkeln.
Es roch nach Ausdünstungen und Plastik. Ich blickte aus dem
Fenster. Draußen fuhr Schloss Charlottenhof vorbei. Tom war
eingenickt. Auch ich schloss die Augen und döste vor mich
hin. Als ich sie wieder öffnete, saß mir eine junge
Frau in einem blauen Sommerkleid gegenüber. Sie sah mich an,
als wollte sie mich hypnotisieren. Und das gelang ihr auch. Ich
lächelte sie an, ich konnte gar nicht anders. Sie strahlte
zurück und nickte mir zu. Ich grinste verlegen und hoffte,
Tom wäre wieder aufgewacht und könnte mir zur Seite stehen.
Aber er schlief immer noch neben mir und atmete gleichmäßig.
„
Typisch, wenn man Freunde brauchen könnte, sind sie nicht
da. Oder pennen einfach“, dachte ich.
Ich versuchte, die Frau gegenüber zu ignorieren und schaute
aus dem Fenster. In einem Winkel, aus dem ich ihr Spiegelbild in
der Fensterscheibe betrachten konnte. Auch sie schaute heraus.
Ob sie mich auch sah? Um es herauszufinden, beschloss ich, nun
die Gangseite des Abteils zu betrachten. Beim Drehen des Kopfes
könnte ich sehen, ob sie mich beobachtete. Gesagt, getan.
Ich kam nicht bis zur Gangseite. Mein Blick blieb an ihrem Gesicht
mit den strahlenden Augen hängen.
„
Du hast mich in der Fensterscheibe beobachtet“, meinte sie
lachend.
Ich fühlte mich ertappt. „Du mich aber auch“,
erwiderte ich und grinste verlegen.
„
Kann sein. Stört es dich?“
„
Nein, ganz und gar nicht. Hast du eigentlich magische Kräfte
oder so etwas Ähnliches?“
„
Wie kommst du denn darauf?“
„
Ich kann deinem Blick nicht ausweichen, du verzauberst mich.“
Wieso war ich so mutig? So kannte ich mich gar nicht. Klar konnte
ich reden, aber nur bei Leuten, die mich kalt ließen. Begegnete
ich jemandem, der mich wirklich interessierte oder einer Frau,
die mir gefiel, brachte ich oft keinen geraden Satz heraus. Und
bei einer Zauberfee wie dieser hier müsste ich eigentlich
stumm sein wie ein Fisch.
Sie lachte schon wieder. „Das hast du schön gesagt.
Wer weiß, vielleicht möchte ich dich ja verzaubern.“ Sie
beugte sich zu mir vor, ihr Kopf war nur noch wenige Zentimeter
von meinem entfernt und schaute mir in die Augen. Meinetwegen hätte
der Zug jetzt wegen eines Lokschadens stehen bleiben können.
Vermutlich wären aber nach wenigen Minuten schon die Nationale
Volksarmee, die Brigaden der Feuerwehr und die Jugendbrigade vor
Ort gewesen und hätten alle Fahrgäste aus ihrer misslichen
Lage befreit. Später wären die Helfer mit irgendeiner
der zahllosen Verdienstmedaillen der Deutschen Demokratischen Republik
ausgezeichnet worden. Nur nicht mit der Medaille für die Verdienste
um die deutsch-deutsche Freundschaft. Denn wir waren ja in keiner
misslichen Lage.
Sie lehnte sich zurück und rückte ihr Kleid zurecht,
das ein wenig verrutscht war. „Du bist aus dem Westen?“,
fragte sie. Nein, es war keine Frage, eher eine Feststellung.
„
Und du aus dem Osten“, konterte ich und grinste. „Woran
hast du gemerkt, dass ich ein Wessi bin?“
„
Keine Ahnung. Ich sehe das einfach. Die Klamotten, die Art, wie
du sprichst. Und dein Dialekt. So spricht bei uns keiner.“
„
Komisch, bisher hatte ich gedacht, ich würde nicht auffallen
bei euch.“
„
Jeder in der DDR sieht euch an, dass ihr von drüben seid.
Und wer ist das da?“ Sie zeigte auf Tom, der noch immer leise
vor sich hin schnarchte. „Woher kennst du den? Der ist von
hier, stimmts?“
„
Das ist Tom. Mein Freund aus Güsen. Ich bin zu Besuch bei
ihm. Woher ich ihn kenne ist eine lange Geschichte. Erzähl
ich dir ein anderes Mal.“
„
Und wie heißt du?“
„
Stopf.“
„
Stopf? So heißt doch kein Mensch!“
„
Doch. Ich. Na gut, in echt heiße ich mit Vornamen Olaf und
mit Nachnamen Stopperich. Ich mag beide Namen nicht. Deswegen verbiete
ich alles außer Stopf.“
„
Ich werde es mir merken. Ich heiße Jana. Wenn du die Silben
vertauschst, heiße ich Naja.“
„
Naja würde aber nicht zu dir passen. Fanta wäre besser.
Für Fantastisch. Aber Jana finde ich auch nicht übel.“
„
Wir sind gleich in Wusterwitz. Dort muss ich raus. Was macht ihr
heute Abend?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„
Kommt doch nach Genthin. Das liegt genau zwischen Wusterwitz und
Güsen. Dort ist heute Disco. Ich würde gern mit dir hingehen.
Magst du?“
Und ob ich wollte. Ich nickte zustimmend und versuchte, so cool
wie möglich zu bleiben. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Jana
stand auf.
„
Also, heute Abend um acht Uhr im Jugendklub“, sagte sie,
trat auf mich zu und küsste mich unvermittelt auf die Wange.
Mit einem breiten Grinsen im Gesicht verließ sie das Abteil.
„
Donnerwetter“, dachte ich. „Was ist denn hier los?“
Was für ein Auftakt! Noch heute staune ich über mich
selbst. Kurz vor meiner Abfahrt nach Güsen bekam ich Post
von Alina, mit der ich wenige Monate zuvor eine Urlaubsaffäre
hatte. Zuhause aber wartete ihr Freund. Schon als ich den Brief
im Briefkasten vorfand, wusste ich, was darin stehen würde.
Es war immer dieselbe Leier von wegen „war total schön
mit dir“, „bedeutet mir was“, „brauche
Abstand“, „können ja Freunde bleiben“. Und
genau so war es. Erwartung erfüllt. Von Liebesspielereien
hatte ich die Schnauze voll. Vorerst. Genauer gesagt bis zu diesem
Abend im FDJ-Jugendklub. [...]
Eline Menke
Warte nicht
bis die Tage wie Türen an
unsere Sprache schlagen.
Im Zugwind fällt mein
Wort ins Schloss.
Du hast die Fenster des
Schweigens geöffnet,
scheuchst Erinnerung wie
einen Dieb aus dem Haus.
Er lässt seine Beute
unter dem Birnbaum
fallen, ich lese sie mit
dem Fallobst auf.
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