(Platz 1-3,
Auszug aus der zweitplazierten Erzählung)
Gerhard Nath
Pfingsten
Am grünen Juniabend lehrt dem Winde das Lieben
die weißblonde Windsbraut der Roggen
Granne für Granne ein Sehnen und Fliehen
ein Fiebern und Flehen
Erstarren und Fließen
Aufbäumen sich legen verharren
verwehren sich finden entgleiten
kommen lassen gehen dürfen bleiben wollen
den wind zu empfangen
gibt sie sich hin
nimmt sie ihn her
erfährt ihn im Grunde
und gibt ihn frei
staunend und sanft und verstanden
Ein Läuten darüber und lichten Gesang
aus „Lieder aus der Alterskindheit“
Horst Decker
Ein kurzer Frühling
„
Im Frühling werden wir uns wiedersehen.“ Das waren die
letzten Worte, die er uns aus dem Fenster des abfahrenden Eisenbahnzugs
zurief. Es war ein Versprechen, das ich fast überhört
hätte. Aber, ich hatte es gehört und daher galt es.
Mutter und ich gingen schweigend nach Hause. Wir mussten nicht
reden. Jeder von uns wusste genau, was der andere dachte, nämlich
immer wieder nur die eine Frage, werden wir Vater wiedersehen?
Man hörte in diesen Tagen oft vom Tod. Noch vor drei Jahren
waren die Zeitungen voller Todesnachrichten. Dann wurden sie verboten,
denn, so sagte die Regierung, sie schadeten dem Volk, sie demoralisierten
und provozierten Defätismus. Aber der Tod war unüberhörbar.
Er war allgegenwärtig.
Es war immer der gleiche Ablauf. Man wartete und wartete, aber
die Post stellte keinen Brief des Angehörigen mehr zu. Eigene
Briefe kamen zurück. Wochen der Ungewissheit und dann, gefühlsmäßig
völlig unvorbereitet, ein jede Hoffnung vernichtendes Schreiben
seiner Kompanie. Man musste es nicht öffnen, um zu wissen,
was darin stand. Manche verbrannten es daher ungeöffnet, um
bei all dem Schmerz nicht auch noch die manifestierte Verhöhnung
lesen zu müssen - „in treuer Pflichterfüllung im
tapferen Kampf für das Vaterland den Heldentod empfangen.“
Nach Vaters Weihnachtsurlaub hörten wir nichts mehr von ihm.
Briefe an seine Feldpostnummer kamen wegen Unzustellbarkeit zurück.
„
Das hat nichts zu sagen“, erklärte mir Mutter: „Die
Postverbindungen werden zusammengebrochen sein. Es geschieht viel
in dieser Zeit. Im Frühjahr wird Vater bei uns sein. Er hat
es versprochen.“ - Aber nachts hörte ich sie weinen,
auch wenn sie versuchte, dabei so leise wie möglich zu sein.
Aber Gefühle sind nicht immer leise. Manchmal lassen sie sich
einfach nicht festhalten.
Jeden Morgen, wenn wir aufstanden führte unser erster Weg
in die Küche. Meine Aufgabe war es bisher gewesen, das alte
Tagesblatt am Kalender abzureißen. Mutter hatte in der Zwischenzeit
im Küchenherd die Reste der nächtlichen Glut geschürt,
anschließend das von mir gebrachte Blatt des Abreißkalenders
genommen , es sachte auf die noch schwach glimmenden Brikettkrümel
gelegt und schnell bereits vorbereitetes Reisig darüber aufgehäufelt.
Ich durfte dann die Glut anblasen, bis das Feuer wieder munter
aufloderte.
Besonders gerne riss ich die Kalenderblätter von Sonntagen
und Monatsanfängen ab, denn bei diesen war die Datumsangabe
in fetten, roten Buchstaben aufgedruckt.
Es war am 1. März 1945. Die ganze Nacht freute ich mich auf
die kommende Abwechslung des ansonsten immer gleichen Tagesablaufs,
- Luftschutzkeller, Schlafversuch, Nachtalarm, Schlaf, Kalender
abreißen, Ofen anheizen, Schlangestehen für Lebensmittel,
Essen, Hungern, Warten, Alarm - und nun als Durchbruch dieser Eintönigkeit
wieder einmal das Abreißen eines roten Kalenderblattes.
Als ich dann aber am kommenden Morgen freudig zur Tat schreiten
wollte, stellte ich zu meinem Erstaunen fest, dass der Kalender
nicht mehr an seinem alten Platz hing.
„
Ich habe ihn höher gehängt“, erklärte Mutter: „Ich
möchte verhindern, dass wir aus Versehen zu viele Blätter
abreißen. Wir benötigen zum Anfeuern des Ofens nicht
mehr unbedingt Papier.“
Sie beschloss, dass nur jeden zweiten Tag ein Kalenderblatt abgerissen
werden sollte, änderte das nach wenigen Tagen auf jeden dritten
Tag und schließlich sollten gar keine Blätter mehr vom
Kalender entfernt werden.
Und als mir mehr und mehr auffiel, dass sich unser Garten mit Blumen
füllte, fragte ich Mutter, wann denn endlich der Frühling
da sei.
„
Das dauert noch eine Weile“, sagte sie: „Du wirst es
schon merken. Wenn Vater zurückkommt, dann ist Frühling.
So hat er das gesagt.“ Und ich erinnerte mich an Vaters Worte.
[...]
Friedeborg Stisser
Durchbruch
Der Riss im Eis
Bersten spaltentief
Schnee tropft vom Dach
Flüsse schwellen
Ackerschollen
leuchten feucht
auf sonnenwarmen Gestein
die Fliege
Stare schmettern
im Geäst der Bäume
schießt das Grün
Weidekätzchen brechen auf
Blütenstaub in den Wolken
doch ich stehe im
Wintergrau
Blut hämmert
in den Schläfen
meine Hände
ziehen Linien von gestern
lass mich legen
in den letzten Schnee
wenn erste Frühlingsröte
sich erbarmt
mich fortträgt zum
Tanz der Nebelzungen
über dem See
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