(Auszug aus
den Gewinner-Beiträgen im Literaturwettbewerb "Die
Farbe Grün")
Kerstin Werner
Auf der Suche nach dem Paradies
Schon lange habe ich keine Kunstausstellung mehr besucht, denn
alle Museen mussten aufgrund der Corona-Pandemie für viele
Monate schließen. Doch seit einer Woche hat das Kunstmuseum
unserer Stadt wieder geöffnet und lockt die Besucher mit
einer neuen Sonderausstellung unter dem Titel „Marc Chagall – Paradiesische
Gärten“. Ich mag seine poetischen und farbleuchtenden
Bilder, die ich bisher nur von großen Reproduktionen kenne.
Wie werden sie sich im Original anfühlen? Bekomme ich neue,
mir noch unbekannte Bilder des Künstlers zu sehen? Ich kann
es kaum erwarten. Noch bleibt mir ein wenig Zeit, ich habe meinen
Ausstellungsbesuch erst für dreizehn Uhr gebucht. Meine
Vorfreude ist so groß, dass ich Lust verspüre, mich
schön zu kleiden. Ich gehe ins Schlafzimmer, öffne
meinen Kleiderschrank und überlege, was ich anziehen könnte.
Während ich meine Sachen gründlich durchforste, gerät
mir auf einmal mein grünes Baumwollkleid in die Hände.
Vorsichtig ziehe ich es aus meinem Schrank und betrachte es mit
neuem Blick. O wie liebte ich dieses lange weite Kleid mit dem
zauberhaften Rankenmuster! Eine Modedesignerin muss dieses Einzelstück
angefertigt haben. Zartgrün schlängeln sich die filigranen
Pflanzenornamente über das smaragdfarbene Kleid, wobei das
kunstvolle Wechselspiel zwischen hellen und dunklen Grüntönen
den Reiz des Kleides ausmachen. Ich vergrabe mein Gesicht in
den weichen Stoff und atme den unverwechselbaren Duft ein, der
augenblicklich viele schöne Erinnerungen in mir hervorruft – Erinnerungen
an ein glückliches, erfülltes Leben. Als hätte
das Kleid mich viele Jahre beschützt, mich auf meiner Suche
nach einer heilen Welt begleitet und mir Hoffnung und Geborgenheit
geschenkt, um eine starke Frau und Mutter zu sein.
Behutsam hänge ich das Kleid an meine Schranktür, gehe
ein Stück zurück, so dass ich es in voller Größe
betrachten kann. Wie schön es noch immer ist, denke ich. Und
wieviel es erlebt hat. Ich war jung, gerade einmal sechsundzwanzig
Jahre alt, als ich es im Oktober 1990 von einer Waldorflehrerin
geschenkt bekam. Sie fühlte sich zu alt, um dieses Kleid weiter
zu tragen. Wir begegneten uns nur kurz auf einer Waldorflehrertagung
in Stuttgart, aber diese kurze Begegnung mit mir muss ihr genügt
haben, um mir dieses wundervolle Kleid zu schenken. Ihr Mann, der
als Gründungslehrer schon im Sommer 1990 zu uns nach Halle
kam, um mit uns eine Freie Waldorfschule aufzubauen, muss ihr wohl
auch von mir erzählt haben. Deshalb wusste sie, dass ich es
wertschätzen und lieben würde. Damals ahnte ich noch
nicht, wie sehr es mich tatsächlich in meinem weiteren Leben
begleiten würde.
Mit der Wende 1989 begann für mich ein vollkommen neues Leben.
Zu dieser Zeit arbeitete ich am Institut für Lehrerbildung
in Weißenfels und unterrichtete Studenten im Fach Kunsterziehung.
Die Arbeit bereitete mir viel Freude, die bildende Kunst interessierte
mich und die Studenten waren mit Leidenschaft dabei. Aber das Jahr
1989 war ein unruhiges Jahr, das spürte ich am Institut besonders
deutlich. Unter den Kollegen und Studenten herrschte große
Unsicherheit, keiner der Dozenten wurde mehr nach der politischen
Gesinnung überprüft und die sonst so lauten, dominanten
Parteimitglieder der SED, die stets darauf bedacht waren, jedes
Denken und Handeln ihrer Kollegen unter Kontrolle zu behalten,
verstummten plötzlich, als hätten sie etwas Schlimmes
zu befürchten. Ich bekam sogar den Eindruck, dass ich als
Lehrerbildnerin meinen Unterricht inhaltlich gestalten konnte,
wie ich wollte, niemand hätte mich zur Rechenschaft gezogen.
Und dann geschah etwas in unserem Land, was noch nie auf deutschem
Boden vorgekommen war: Die friedliche Revolution hatte begonnen.
Das alte DDR-Regime brach zusammen und die Grenzen zu Westdeutschland
wurden geöffnet. Es war für uns alle eine aufregende
Zeit, am Institut wusste keiner mehr, woran er sich orientieren
sollte. Auf einmal wurden die Kollegen untereinander misstrauisch,
unter vorgehaltener Hand wurden böse Verdächtigungen
ausgesprochen, wer wohl bei der Staatssicherheit tätig gewesen
sei. Ich verdächtigte niemanden, weil ich die Spekulationen
als ungerecht empfand; auch war ich neu am Institut und kannte
die Vergangenheit der Kollegen nicht. Meinen Blick richtete ich
nach vorn. Ich war jung und meine ganze Zukunft lag vor mir.
Im Februar 1990 kam ich mit der Waldorfpädagogik in Berührung,
besuchte mehrere Vorträge und Seminare, die von drei erfahrenen
Waldorflehrern aus Stuttgart im damaligen „Haus des Lehrers“ in
Halle organisiert und gehalten wurden. Parallel dazu entwickelte
sich ein fester Lesekreis, zu dem wir uns abends zwei Mal in der
Woche in einer privaten Wohnung einer jungen Familie trafen, die
ihre Kinder gern in eine Waldorfschule einschulen würden.
Hier lernte ich Frau Maiwald kennen, eine ältere Lehrerin
im Ruhestand, die tief verwurzelt mit der Anthroposophie und der
Waldorfbewegung war. Damals wusste ich nicht, dass es auch in der
DDR eine anthroposophische Gesellschaft und eine Christengemeinschaft
gab, die sich regelmäßig traf und im Untergrund arbeitete.
So auch in Halle. Frau Maiwald erschien zu jedem Lesekreis und
machte uns jungen Menschen Mut, sich intensiv mit der Anthroposophie
und der Waldorfpädagogik auseinanderzusetzen. Und je öfter
wir zusammenkamen, alte und junge Menschen, desto mehr lernten
wir uns kennen, gewannen zueinander Vertrauen und erkannten bald,
dass sich bereits eine kleine feste Lehrerschaft gebildet hatte,
die bereit war, als Waldorflehrerin und Waldorflehrer in Halle
zu arbeiten. Wir sehnten uns nach einem alternativen und menschenfreundlicherem
Schulsystem. Und nach vielen Wochen intensiver Arbeit reifte in
uns der Entschluss, eine Waldorfschule in unserer Heimatstadt zu
gründen. Gemeinsam mit unseren drei erfahrenen Waldorflehrern
aus Stuttgart organisierten wir weitere Seminare und Vorträge,
und im Sommer 1990 sollte ein erfahrener Gründungslehrer aus
Göppingen zu uns kommen, der bereit war, uns zu helfen, die
Freie Waldorfschule in Halle aufzubauen. Mit jedem neuen Tag gingen
in unserem Land rasante politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche
Veränderungen einher, die uns bestärkten, alles dafür
zu tun, damit die Waldorfpädagogik sich frei entfalten kann.
Nichts sollte uns mehr im Weg stehen. Vormittags arbeitete ich
noch am Institut für Lehrerbildung in Weißenfels, und
am Nachmittag und Abend besuchte ich in Halle Waldorfkurse und
Vereinsversammlungen. Im Mai bewarb ich mich an der Pädagogischen
Hochschule in Magdeburg, um für fünf Wochen an einem
Waldorfintensivkurs teilzunehmen, der von einem Gründungslehrer
aus Braunschweig organisierte wurde; auch in Magdeburg gab es bereits
eine Gründungsinitiative für eine Waldorfschule. Der
Kurs sah auch vor, eine Woche lang an einer beliebigen Waldorfschule
zu hospitieren.
Obwohl ich aus Halle kam, durfte ich an diesem Intensivkurs teilnehmen.
Vom Institut, wo ich noch als Fachschullehrerin für Kunsterziehung
arbeitete, wurde ich für diese fünf Wochen freigestellt.
In Magdeburg begegnete ich erneut Menschen, die ebenfalls einen
großen Einfluss auf meine weitere Entwicklung nahmen. Ich
kam mit Waldorf-Dozentinnen und -Dozenten in Berührung, die
sich spontan zusammengeschlossen hatten und die gegenwärtige
Aufbruchstimmung in Ostdeutschland als Chance nutzten, uns näher
kennenzulernen und mit uns zu arbeiten. Mit großem Einfühlungsvermögen
versuchten sie, uns die Waldorfpädagogik nahezubringen. Sie
vermittelten uns die nötigen Grundlagen und gestalteten praxisbezogene
Seminare, bei denen wir uns mit Leib und Seele einbrachten. Ich
begann, die Eurythmie zu lieben. Mir war, als bekäme ich Flügel
und schwebte über der Erde. Auf einmal spürte ich, mit
wie viel Phantasie, Kreativität und Schaffenskraft ich ausgestattet
war. Alles fühlte sich leicht und beschwingt an; meine Leidenschaft
für die Waldorfpädagogik entbrannte so stark, dass ich
die täglichen Anstrengungen kaum spürte. Und es waren
nicht allein das waldorfpädagogische Konzept und die geisteswissenschaftlichen
Theorien, sondern vor allem die Menschen – die Waldorflehrerinnen
und Waldorflehrer –, die mich mit ihrer Liebenswürdigkeit,
ihrem reichen Erfahrungsschatz und ihrer Wahrhaftigkeit von diesem
alternativen Schulsystem überzeugten. Ich tauchte in die wundersame,
spirituelle Welt ein, als hätte ich mich ein Leben lang nach
einer Waldorfschule gesehnt, und gewiss wäre sie auch die
geeignete Schule für mich als Kind gewesen. Aber in der DDR
gab es leider keine Waldorfschulen. Meine Hospitationswoche an
der Michael-Bauer-Schule in Stuttgart bestärkte meinen Entschluss,
künftig als Waldorflehrerin zu arbeiten.
In Halle war indes die Gründung der Waldorfschule nicht mehr
aufzuhalten. Das Lehrerkollegium, das sich inzwischen herauskristallisiert
hatte, beschloss, mit den Klassen eins bis vier zu beginnen. Und
damit wir alles in Ruhe besprechen konnten, stellte uns Frau Maiwald
ihre kleine Wohnung zur Verfügung. Es gab so viel zu bedenken,
dass ich in manchen Momenten bangte, wir könnten das alles
nicht bewältigen. Aber unser Zusammenhalt war so eng und stark,
dass ich immer wieder hoffnungsvoll und mutig nach vorn blickte.
Für mich war es unglaublich spannend, eine Schule zu gründen,
die es bisher in Halle noch nie gegeben hatte. Schon bald führten
wir die ersten Aufnahmegespräche mit Schülern und Eltern,
die sich für die Waldorfschule angemeldet hatten. So machten
wir uns ein genaues Bild darüber, welche Kinder zu uns kommen
und wie groß unsere Klassen werden würden. [ ... ]
(Auszug)
Ulrich Straeter
Côte Sauvage
Wasserwelt
weiße Fetzen am Holz
sengende Sonne
im Rauschwind Glitzerwasser
Blindes Felsgewirr
rotgezeichnet
nachts Geblinke der Feuer
Brückenköpfe im Silberdunst
Gelbe Sandstriche
gerahmt von Krüppelgrün
Inselschafe kurzbeinig
vom Sturm
Eline Menke
Gut frisiert
Manchmal mache ich
die Mode mit. Mein
Gedanke trägt eine
neue Frisur.
Mit grünen Bändern
die Sätze verbinden,
in hellen Farben, die sich
um alte Zöpfe winden.
Abends, vor dem Spiegel
lasse ich die Haare
offen fallen, kämme
lose Worte aus.
Dieter R. Fuchs: “Das grüne Blut des Jadedrachen”
https://literaturradiohoerbahn.com/great-shorties-das-gruene-blut-des-jadedrachen-von-dieter-r-fuchs/
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