(Auszug aus den Gewinner-Beiträgen im Literaturwettbewerb "Herbstimpressionen")



Peter Frank

Herbstabend

Das weiße Licht des Mittags wurde alt.
Wolken sehen wie Leguane aus.
Schatten kriechen züngelnd aus dem Wald.
Es weht der Wind, als hebe er das Haus.

Noch zieht die Vogelkette durch die Luft.
Nachzüglerschrei, verloren, gehetzt.
Bäume stehen schwarz & ohne Frucht.
Es hat das Jahr die Totenmaske aufgesetzt.

Schon zetern die Drosseln der Dämmerung,
Ihre Schnäbel schleifen nur den Stein.
Nebel liegt in leeren Nestern.

Zerbrochen die Urne der Erinnerung.
Grußlos tritt der Abend ein. Mit der
Flasche Bier & dem Brot von gestern.


Peter Frank

Clown

Impresario -
mit der Gage
durchgebrannt.

Die Todesnachricht,
gesprochen ins Lachen
der Anderen.

Wie Herbstlaub
fällt Applaus in die
leere Manege.


Peter Lechler


Renten-Zirkus


Petras Prozess gegen die Deutsche Rentenversicherung (DRV) vor dem Sozialgericht in Speyer war im Frühjahr 2016 verloren. Das Gericht sah ihr berufliches Leistungsvermögen zwar als „mannigfaltig und erheblich eingeschränkt“ an, aber nicht so gravierend, dass ihr nicht Arbeit als „einfacher Pförtner“ zugemutet werden könne. So einen Job zu ergattern, kam für sie als 63jährige mit Handicaps der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen gleich. Dafür jedoch war die DRV nicht zuständig. Ihr ging es allein um Art und Ausmaß von Petras Einbußen, und die ließen dem Urteil zufolge noch leichte Tätigkeiten sogar ganztags zu. Wiederholtes Heben und Tragen von fünf bis zehn Kilo schweren Lasten, ständige Arbeit in Kälte, über Kopf und auf Leitern, Spätschicht sowie vermehrte psychische Belastung seien dagegen nicht mehr zumutbar. Zur Vermittlung von Jobs aber war die Agentur für Arbeit (weiter meist nur Agentur genannt) verpflichtet, die sich nunmehr um ihre Eingliederung zu kümmern hätte.
Diesen Ausgang erfuhr Petra zwar nicht als niederschmetternd, wenn er sie auch enttäuschte und ihr zu allem Übel noch suggerierte, Beschwerden aufgebauscht zu haben, obschon die ja jeden Tag präsent und für sie absolut real waren. Zweimal hatte sie gar in die Notfallambulanz gemusst, weil sie ihren Kopf nicht mehr drehen konnte und höllisch darunter litt. Vielleicht wäre der Prozess anders ausgefallen, hätte das Gericht keinen auf objektive Daten fixierten Orthopäden, sondern einen Schmerztherapeuten als Gutachter bestellt, aber sei’s drum, jetzt würde sie sich auf die neue Lage einstellen.
Sie hatte alles versucht, ihre Beschwerden an der ganzen Wirbelsäule, Schlüsselbein, Hüfte und Bein in den Griff zu kriegen, dass sie ihre Arbeit möglichst dauerhaft wieder bewältigen könnte: Spritzen, Pillen, Strahlen, Nadeln, Physio- und Stoßwellen-Therapie, letztere auf ihre Kosten, wie auch stationäre Behandlung in der orthopädischen Klinik, das ganze Programm eben. Der Erfolg war mäßig, die Prognose bei gewohnter Belastung schlecht, so dass ihr der Orthopäde schließlich empfohlen hatte, Rente wegen Arbeitsunfähigkeit, wie es früher hieß, zu beantragen.
Dem wohlmeinenden Rat zu folgen, hatte ihr Fremdes und Schwieriges abverlangt, vor allem sich hartnäckig zur Wehr zu setzen, und das obwohl Petras Nacken doch lädiert war! Ihr Antrag auf „Erwerbsminderungsrente“ von der DRV abgelehnt, hatte sie Widerspruch eingelegt und als auch der abgewiesen wurde, Klage vor dem Sozialgericht erhoben. Vorsorglich - es war ja nicht ausgemacht, dass sie die Rente bekäme - hatte sie noch im Dezember 2015 rechtzeitig den Antrag auf Arbeitslosengeld bei der Agentur in Neustadt gestellt, da sie am 25. März 2016 ausgesteuert würde. Mit Erhalt dieser Leistung wäre sie dann auch weiterhin krankenversichert.
Da lauerte auch schon das nächste Problem: Sie würde von der Agentur kein Geld kriegen, solange nicht feststand, ob sie dem Arbeitsmarkt, wenn auch eingeschränkt, wieder zur Verfügung stand. Wenn sie jedoch voll arbeitsunfähig wäre, müsste sie nach Vorschrift des Sozialgesetzes (SGB III, § 145) Arbeitslosengeld als „Nahtlosigkeitsleistung“ erhalten, bis der weitere Verlauf geklärt wäre. Die Arbeitsvermittlerin der Agentur empfahl Petra, sich besser gleich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen, dann gäbe es mit dem Geld keine Komplikationen. Die Anwältin jedoch drängte sie, die Nahtlosigkeitsleistung zu beantragen, solange der Prozess noch lief. Auf volle Erwerbsminderung zu klagen und sich gleichzeitig dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen, passe wie die Faust aufs Auge! … [Auszug]


Gudrun Baruschka


Rügenherbst


Wie Fremde liefen sie nebeneinander im lichten Kiefernforst, vermieden Berührungen und Blicke. Über die Wipfel ging der Wind. Karen wusste: sie mussten sich endlich aussprechen. Gut war, dass Lutz sie begleitete und sie nicht, wie unzählige Male vorher, allein mit den Kindern zum Strand hatte gehen lassen. Sein Gesicht aber war gleichgültig wie seit Wochen. Vielleicht täuschte sie sich, wenn sie annahm, dass er heute mit sich reden ließ. Wie zugeschnürt war ihr die Kehle, und alle Argumente schienen sich heillos in ihrem Hirn verkeilt zu haben. Sie schluckte heftig und setzte sich eine letzte Frist: Wenn wir die Dünen erreichen, fange ich an.
Lutz spürte die Unruhe seiner Frau seit sie mit den Kindern nach dem Frühstück losgezogen waren; er mochte jedoch nicht fragen, geschweige denn reden. Ihm war nur danach, diesen frischen, reifen Oktobertag mit Haut und Haaren in sich aufzunehmen, sich sattzusehen an nebligen Wiesen, fruchtbaren Äckern, an stillen Buchten und schimmerndem Feuersteingeröll. Eventuell schafften sie es auch bis zum steil aufragenden Hochufer, aber ganz sicher erreichten sie bald flachen Sandstrand mit tosender Meeresbrandung. Er war lange nicht mehr mitgegangen, wenn Karen und die Kinder Inselspaziergänge unternommen hatten, und merkte jetzt, dass er sich selbst damit wehgetan hatte. Er liebte die Insel seit ihrer Hochzeitsreise hierher. Hier zu leben, diesen Traum hatte er sich verwirklicht seit dem Mauerfall. Aber um welchen Preis ... Dumpfe Bitterkeit spürte er aufsteigen. Er ballte die Hand in der Hosentasche zur Faust. Dabei berührte er ein Stückchen Papier und unterdrückte ein Stöhnen. Nein, Karen sollte nicht merken, wie es wirklich stand. Er hatte alles verloren; es blieb ihm nichts! Seinen stummen Schrei riss ihm der Wind fort. Die wenigen Buchen seitwärts schützten nicht mehr. Die Kinder tobten längst in den Dünen. Er sah Kai wie ein übermütiges Fohlen durch den hüfthohen Strandhafer jagen und Jenny haschte nach ihm und hielt sich lachend die wehenden Haare aus der Stirn. Leiser Zweifel zerfraß seine schweren Gedanken. Die beiden und Karen gehörten ja zu ihm; war ihr Leben nicht auch irgendwie seines?
,Jetzt‘, befahl sich Karen trotzig. Ihre Schuhe sanken in den hellen weichen Dünensand. Es lief sich nun viel schwerer als auf erdigem Waldboden. Der auflandige Wind fuhr einem ins Gesicht und zerrte an der Kleidung. Karen fühlte sich seltsam atemlos, als hätten ihr Sand und Wind schon in den wenigen Minuten alle Kraft und allen Mut genommen. Sie beobachtete die fröhlichen Kinder und sagte endlich: „Schön, dass wir uns heute die Zeit füreinander nehmen können ... Lass uns reden über alles ... und wenn du‘s nicht willst, so höre mir bitte zu und versuch mal, ehrlich darüber nachzudenken.“
Karen fürchtete sich vor der Antwort ihres Mannes, die vielleicht hässlich sein und schmerzen oder ausweichend gleichgültig sein würde. Je länger er schwieg, umso mehr war sie auf alles gefasst. Sie starrte in die wogenden Dünenwellen und spürte tief drinnen und dunkel die plötzliche Erkenntnis, dass sich nun wohl auch das letzte Band zwischen ihr und Lutz lösen würde, wenn er jetzt nicht zu sich kam.
Lutz durchwühlte sein blondes Haar. Er hatte sich abgewandt und suchte mit heißen Augen am Horizont hinter den Dünen nach dem Anblick der See. Doch sie waren zu weit entfernt stehengeblieben. Von hier aus hörte man noch nicht einmal das Rauschen der Brandung. Aber stolze, schöne Möwen segelten im Grauhimmel. Karen kam ihnen gleich, fiel ihm auf. Sie ließ sich anscheinend von keinen Widrigkeiten schrecken. Im Auf und Ab ihrer zwanzig gemeinsamen Jahre hatte er erfahren, dass er ihr unterlegen war, wenn sie über Probleme diskutierten, dann blieb ihm oft ein schaler Beigeschmack, gegen sie verloren zu haben. Sollte er es wieder darauf ankommen lassen? Wenn er aber nicht aufgeben wollte, musste er kämpfen, und dazu gehörte reden und vielleicht auch verstehen. Er atmete tief durch. „Gut, versuchen wir‘s.“ … [Auszug]

 

Alle weiteren Texte sind im Band „Auf der Halbinsel“ nachzulesen.