(Auszug aus den Beiträgen im Berliner Literaturwettbewerb)

 

1. Preis, Kategorie Gedichte

Renate Maria Riehemann

Du sagst Physalis

Wettergraue Bretter – zwei
nebeneinander ins Gras gelegt.
Den Ahornsegler hauche ich
vom Tisch. Beinahe
ohne Widerstand.

Blütenblätter wilder Rosen
in die Maserung gerieben.
Das Muster webt der Wind,
weht vier ins Gras,
die gebe ich verloren.

Kapstachelbeeren (Du sagst Physalis)
im goldenen Käfig. Du nennst ihn orange,
aber ich, ich glaube an Märchen
und stecke sechs Früchte,
die Stiele zwischen die Bretter.

Goldene Kugeln – Renekloden –
zickzacke ich um die Physalis,
dieses Wunder mit technischem Namen.
Du links, ich rechts,
eine bleibt für jedes Ende.

Für jeden Finger deiner Hände
grüne Birnen auf den Tisch:
al dente – süß, doch ohne Saft,
der unnütz uns
vertropfen würde.

Und jetzt das Dutzend blaue Trauben
als Kreis um deinen Platz gelegt.
Darum form ich ein Haus aus
Lavendelblüten.
Sanft will ich dich betören

und schlüpfe in das weiße Kleid.
Liebesduft strömt in mein Herz,
dass ich die Trauben koste, dann
eine Birne
nach der anderen.

Mit goldenen Bällen spiele ich,
jongliere sie auf meiner Zunge.
Spucke die Kerne der Renekloden
ü ber den Tisch,
noch hinter meinen Schatten.

In alle Himmelsrichtungen
entblättere ich sorgsam die Physalis.
Ihr herber Geschmack belegt meine Zunge.
Drei – zwei – eins –
wo bleibt mein Ahornsegler?

1. Preis, Kategorie Erzählungen


Anna B. Lippmann


Schlachtekohl und Johannisbeerschnaps

(Auszug)

Gellend drang das Quieken durch die kalten Hausmauern. Selbst in der nach Knoblauch riechenden Küche konnte Annie es hören. Ihre Mutter hatte am Vorabend so große Mengen Knoblauch gehackt, wie sie das ganze Jahr über nicht brauchte. Nur am Schlachtetag, da war es anders. Annie wappnete sich innerlich, manchmal dauerte das Quieken eine Weile. Die Männer mussten das Schwein fangen und festhalten, bis der Schlachter mit einem dumpfen Plopp aus dem Bolzenschussgerät dem Lärm ein Ende machte.
Plötzlich war es ruhig. Diesmal hatte es wohl keine Probleme gegeben. Weder waren die Männer im Schnee ausgerutscht, noch war ihnen das Schwein entwischt.
Annie konnte die Männer aus dem Dorf gut leiden, das Schwein aber auch. Schließlich kannte sie es schon, seit es ein winziges rosa Ferkel gewesen war. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie der Vater es vor einem Jahr mitbrachte. Der strampelnde Jutesack war geöffnet worden – und heraus kam ein zappelndes niedliches Ferkel. Das wurde zu Annies Leidwesen von den Eltern sogleich in den mit Stroh ausgelegten Stall gesetzt. Annie hätte gern noch etwas mit ihm gespielt. Aber das ging nicht. Eigentlich wusste Annie das, aber schade war es trotzdem, wie bei allen Ferkeln zuvor.
Auch dieses Ferkel bekam Haferflocken, Reste vom Mittagessen und alte Brotscheiben, die Annie auf Geheiß der Großmutter in den Schweinestall brachte und in den großen braunen Trog schüttete. Am Anfang war der Trog viel zu groß für das Ferkel. Es hätte drin baden können. Aber dann wuchs es und wuchs und nach einiger Zeit hatten das Schwein und der Trog die richtige Größe füreinander. Wenn das Schwein das richtige Gewicht hatte, kam der Schlachtetag. Kalt musste es sein an einem Schlachtetag, damit die „Wurst sich hielt“, sagten die Leute. Und so wurde es Januar, Anfang Februar, die Eltern sprachen darüber, wie lange die Kartoffeln denn noch reichen würden, – das Schwein bekam im Winter meist gedämpfte Kartoffeln –, und wann der Schlachter wohl Zeit für sie hätte. Am Vorabend des bedeutenden Tages wurden die Gerätschaften des Schlachters von Annie und den Eltern mit Hilfe des klappernden hölzernen Handwagens abgeholt. Nicht beim Schlachter selbst, sondern von den Leuten im Dorf, die bereits Schlachtetag gehabt hatten. Während eine große Holzwanne, die Wurstmaschine und blank gescheuerte Bottiche in den klapprigen Handwagen verladen wurden, erkundigten sich die Eltern meist bei den jeweiligen Dorfbewohnern, wie denn das Schlachten so gelaufen sei. Nach dem „kleinen Schwätzchen“, wie die Mutter es nannte, zogen die Eltern den Wagen, dessen Klappern sich nun scheppernd und rasselnd mit dem des Schlachtezeugs vermischte, nach Hause. Annie schob hinten und passte auf, dass nichts herunterfiel, zum Beispiel die blechernen Schaber mit den scharfen Rändern. Die ähnelten Kuhglocken und machten auch bimmelnde Geräusche, wenn sie aneinander stießen. Von den Männern, die sie als Werkzeuge benutzten, um die Schweinehaut von Borsten zu befreien, wurden sie „Schellen“ genannt. Und so klingelte und rasselte am Vorabend des Schlachtetags der Handwagen über die Dorfstraße. Seit heute Morgen lagen die „Schellen“ zusammen mit den kleineren Bottichen auf einem dickbeinigen Tisch im Hof. Daneben stapelten sich die größeren Gerätschaften auf dem hellen Bruchsteinpflaster. Der viereckige Hof wurde an zwei Seiten von Haus und Waschküche, an den beiden anderen von einem grauen Holztor und dem Misthaufen begrenzt. Letzterer trug eine dicke Zipfelmütze aus Schnee, weil der Vater den Hof gefegt und den Schnee auf den Mist geschippt hatte.
Da die Ruhe in der Küche andauerte, fand Annie, dass sie lange genug gewartet hatte. Es war Zeit nachzusehen, wie weit die Sache im Hof fortgeschritten war. Auf dem Flur begegnete ihr der in eine graue Wattejacke gehüllte Vater. „Du kannst jetzt rausgehen“, sagte er. Annie nickte und zog sich eine dicke grüne Strickjacke an. Dann öffnete sie die Tür zum Hof. Das Schwein war offensichtlich tot. Umringt von drei Männern in blauen Schürzen lag es seitlich auf einem dicken Brett und streckte die Beine von sich. Der Kopf hing vorn herunter und der vierte Mann in weißer Schürze schob eine große Schüssel unter den Kehlstich, damit das dicke rote Blut nicht auf die hellen Bruchsteine spritzte. Man würde das Blut noch brauchen, zum Beispiel für Blutwurst. Annie grüßte die Männer und sah noch einen Augenblick zu, wie die rote Pfütze in der Schüssel schnell größer wurde. Dann überquerte sie den nassen Hof und ging zur Waschküche. Beim Öffnen der braunen Brettertür kam ihr ein Schwall dampfender Hitze entgegen. In dem warmen Nebel brauchte sie einige Zeit um die Großmutter zu entdecken. Die kniete vor dem eingemauerten Waschkessel, in dem jede Menge kochendes Wasser blubberte, und hatte die darunter liegende Ofentür geöffnet, um Feuerholz nachzulegen. Das Feuer warf ein gelbliches Licht auf ihr freundlich – faltiges Gesicht, das von einem gemusterten Kopftuch eingerahmt wurde. Die Großmutter wurde von allen Oma Hilde genannt und sie wohnte mit im Haus. Allerdings war sie meist im Garten oder in der Waschküche zu finden.
Auf dem Waschküchentisch und in den Regalen stapelten sich saubere Einweckgläser. Darauf lag ein feuchter Nebelschleier aus heißem Dampf. Am Ende des Tages würden alle Gläser gefüllt sein mit Leberwurst, Blutwurst, Sülze oder Sauerkraut mit Schweinefleisch – was Annie bevorzugte. […]

Alle weiteren Texte im Band „Von raffinierten Kochkünsten“ nachzulesen.