(Auszug aus den Beiträgen mit den ersten drei Plätzen im Wettbewerb "Menschenrechte")

 

Catherine Santur


Der Serpentinitkasten


In Griechenland ergab sich die einmalige Gelegenheit, ihre Gesteinssammlung mit dem seltenen Serpentinit zu vervollständigen. Allerdings verging über die Suche nach einem Zugang zum Smolikasmassiv ein Großteil des Tages, und das seltene Gestein war immer noch lediglich als dunkle Tönung der Bergkuppen zu erahnen. Allmählich wurde das Licht milder. Als sie schließlich ein Dorf erreichten, saßen die alten Frauen mit ihren schwarzen Kopftüchern wie auf einer Perlenschnur aufgereiht vor ihren Häusern in der Abendsonne. Die Durchfahrt geriet damit unweigerlich zur Parade. Streng gemustert von den Alten grüßte sie aus dem Auto heraus höflich nach allen Seiten, nahm die große Verwunderung in den Blicken wahr und flüsterte: „Na, oft scheint hier niemand entlang zu kommen.“ Im Rückspiegel reihten sich die Kopftücher erneut auf. Die Frauen waren offensichtlich aufgestanden, um das Auto so weit wie möglich mit den Blicken zu verfolgen. Ihre Tochter kommentierte: „Die scheinen uns für etwas verrückt zu halten!“ und stupste belustigt ihr Brüderchen an. Hinter dem Dorf endete die Asphaltstraße abrupt und ging in eine Schotterpiste über. Nun war es der Familie doch etwas zu peinlich, zu wenden und die Parade nochmals zu absolvieren. Man konnte den Frauen ja schlecht erklären, dass die Karte offensichtlich fehlerhaft war. Außerdem hatten sie noch immer kein Serpentinitgestein und es wurde Zeit, sich ein ruhiges Plätzchen zum Zelten zu suchen - der nächste Campingplatz war ohnehin zu weit entfernt. Also lancierte Christianes Mann den Wagen über Feldsteine, Rillen und Löcher weiter hinauf in die Berge.
Der Rastplatz, den sie sich aussuchten, lag an einem waldgesäumten, rauschenden Gebirgsfluss, bot eine halbwegs ebene Stelle, um das Abendessen zu kochen und das Zelt auszupacken. Serpentinit war zwar bis auf einige Verwitterungsreste im Fluss noch nicht zu sehen, aber das Essen tat gut und die Sonne strahlte noch weich und warm. Dennoch schwang irgendetwas in dem lauen Abendlüftchen mit, das unruhig machte, ohne dass es recht zu greifen war. Auf der anderen Seite des Flusses verlief ein Trampelpfad, der viele Hundespuren, aber keine von Schafen oder Kühen aufwies. Christiane betrachtete den Pfad, und kam ins Grübeln, wann und warum er wohl benutzt wird. Irgendwie fühlte sie sich beobachtet, konnte aber niemanden entdecken.
„ Mama, schau mal“, rief ihr kleiner Sohn, „die Bäume sind auf der einen Seite alle angeschlagen“. Und tatsächlich wiesen alle Bäume einseitig eine beilgeschlagene größere Einkerbung auf, als sollten die Bäume beim nächsten stärkeren Wind oder bei kurzer Nachhilfe umstürzen.
„ Seltsam“, murmelte Christiane vor sich hin, während ihr Mann dem Ganzen keine größere Bedeutung beimaß und sich an einer - von den Bäumen etwas entfernten Stelle - an den Aufbau des Zeltes machte. Aber ihr passierte beim Aufwaschen am Fluss etwas, was ihr bis dahin noch in keinem Urlaub geschehen war: Es kam ihr geschirrschrubbend der Satz in den Sinn: „Bei diesem Rauschen hört ihr keinen kommen, und keiner wird Euch schreien hören.“
Aufgewühlt von diesem Satz raffte sie kurzentschlossen das Geschirr zusammen und meinte zu ihrem Mann: „Wir müssen hier weg, das ist kein guter Ort.“
Er schaute erstaunt auf. Weder war er gewohnt, dass seine Frau derartige Dinge sagte, noch generell geneigt, vage Stimmungen stärker zu gewichten als das Glück, im Gebirge eine ausreichend große ebene Fläche für das Zelt gefunden zu haben. Aber sei es, weil es für seine Frau so untypisch war, sei es, weil sie mit einer Bestimmtheit fort wollte, die selbst ihn verunsicherte, sie packten ein und fuhren - die kopftuchumrahmten Frauen im Dorf vor Augen - noch etwas weiter in das Gebirge hinein.
Sie erreichten einen grasbewachsenen Gebirgskamm, der sich, umgeben von anderen, sanft geneigten Höhenzügen, über die dunklen Waldtäler erhob und weit ausladend bis zum Horizont öffnete. Eine Zeltmöglichkeit in der Nähe eines abzweigenden Wiesenweges fand sich rasch, und wenig später saß die beiden mit einer Rotweinflasche vor ihrem Zelt und genossen den weiten Blick über die Berge und die Einsamkeit. Alle Beklemmung war abgefallen. Die Kinder, beide schon im Schlafanzug, streiften mit Gesteinshämmerchen bewaffnet über die grünen Hügel, um Serpentinit zu suchen, der sich unter der dichten Grasnarbe verbergen könnte. Ganz in der Ferne hörte man Hundegebell. Dann sorgte ein undefinierbares Geräusch dafür, dass sich die Kinder umsahen und über die Hügel zu den Eltern liefen. Das Geräusch entpuppte sich als ein Geländejeep, der hinter dem nächsten Berg auftauchte und auf das Zelt zuhielt.
„ Kann man nicht mal allein die Berge genießen?“ brummte Stefan vor sich hin, während Christiane dem Griechen im Jeep freundlich zulächelte und gedanklich um eine gute Stimmung bat.
Der Grieche stoppte vor dem Zelt und schaltete den Motor ab.
„ Scheiße“, murmelte Stefan mit unbewegten Lippen. Christiane indes lächelte weiter, was sollte sie sonst auch tun.
„ Wollt ihr hier schlafen?“ bedeutete der Grieche ihnen mit Gesten.
„ Ja“, nickte sie, auf die Kinder in Schlafanzügen schauend, die ihr ohnehin keine Ausrede ermöglicht hätten.
Das Gesicht des Griechen veränderte sich. Mit hochgezogenen Augenbrauen und stark gestikulierend schüttelte er den Kopf und begann in griechischen Wortfluten etwas zu erklären, was wichtig zu sein schien, was die Deutschen aber nicht verstanden. Sie konnten aus dem Wortschwall nur etwas wie „Ochi“ oder wie „Skips“ entnehmen, ohne zu wissen, was sich dahinter verbergen könnte, bis der Grieche mit den Lippen das Rattern eines Maschinengewehres nachahmte und seine Hände an ein unsichtbares Gewehr legte, mit dem er auf die Familie zielte.
„He!“ meinte Stefan, dessen Gesicht nun ebenso unruhig wie das des Griechen wurde. „Was soll das denn?“.
Der Grieche holte unbeeindruckt ein Fernglas aus der Tasche und suchte damit die Bergkette am Horizont ab.
„ Albani! Albani!“ erklärte er dann, zeigte mit einer Handbewegung vom Horizont bis zum Zelt und verfiel wieder in das „TTTT“ des Maschinengewehrratterns.
„ Albaner, die illegal nach Griechenland wollen?“ flüsterte Christiane ihrem Mann zu.
„ Möglich“, zuckte der mit den Schultern. Der Grieche packte indes sein Fernglas ein, schüttelte nochmals den Kopf und startete mit einem „Good night“ den Motor. In wenigen Minuten war er von der Bildfläche verschwunden und hinterließ ein ratloses Ehepaar.
„ Wie viel Kilometer sind wir von der albanischen Grenze entfernt?“ fragte sie.
„ Weiß nicht, vielleicht 15 km“, antwortete er.
„ Und was weißt Du über Albanien?“
Er zuckte mit den Schultern. Was ihm zu Albanien einfiel, ließ sich in zwei Stichworten zusammenfassen: arm und außerhalb Europas. Griechenland hatte die Außengrenze der EU zu sichern, aber die war ja immerhin noch 15 km entfernt. Sie blickten über die weich gerundeten Berge, die nun mit einem rötlichen Flaum überzogen waren, und ergingen sich in Mutmaßungen, wie groß eigentlich die Wahrscheinlichkeit war, dass nun gerade in dieser Nacht marodierende Albanerbanden über die Berge nach Griechenland kamen. Stefan fand es unwahrscheinlich. Weder hatte das Auswärtige Amt Warnungen herausgegeben, noch hatte er etwas von Grenzkonflikten gehört. Christiane war sich unsicher. Die Unruhe, die sie am Fluss erfasst hatte, stieg wieder auf. Sie sah das Zelt, das in Ermangelung von Bäumen oder Felsen gut sichtbar an einem Hügel stand, und das Auto, das für andere durchaus interessant sein konnte. In diesem Moment zuckten beide erschrocken zusammen, denn hinter einem der rückwärtig gelegenen Hügel preschte erneut ein Jeep hervor. Er hatte eine offene Ladefläche, auf der zwei Männer standen. Kurze Zeit später verschwand er hinter dem nächsten Hügel.
„ Das Auto hatte gar kein Nummernschild“, staunte der Kleine. Er liebte Autos, erst recht Jeeps, ob mit oder ohne Nummernschild. Den Erwachsenen war der Unterschied mit oder ohne Nummernschild weniger gleichgültig. Weitaus schwerer wog allerdings die Tatsache, dass die Männer unübersehbar bewaffnet waren. [...]




Peter Frank

Notizen zu einem Geschichtsbuch

Der Blutgestank der Guillotine.

Robert Blums Tod,
unbemerkt wie Kaffeehausmusik.

Rosas Traum,
treibend unter den Sternen.

Sophies Augen, ihr Haar
unter dem Beil.

Willy Brandt. Kniend.

Ein Mauerstein.

Liu Xiaobos leerer Stuhl.

Die alten Bäume im
Gezi-Park.

Die Revolution begann,
als die Regierung beschloss,

das Küssen in U-Bahnen zu
verbieten.

 

 

Esther Redolfi


Simone de Beauvoir und „Das andere Geschlecht“:
Von der Tochter aus gutem Hause zur
Frauenrechtsverfechterin


„Sicher ist, daß ich mit meinem Schicksal zufrieden bin und es in keiner Hinsicht anders haben möchte, weshalb ich denn auch die Faktoren, die mir geholfen haben, es so zu führen, wie es war, als besondere Chance betrachte. Die erste dieser Chancen war offenbar meine Geburt. […] Ich habe einen guten Start gehabt, aber sicher genügt das nicht. Ein Leben besteht nicht in der bloßen Entfaltung eins ursprünglichen Keims.“ (Beauvoir: Alles in Allem) Simone Lucie Ernestine Marie Bertrand de Beauvoir wurde 1908 als erste von zwei Töchtern einer gutbürgerlichen Familie in Paris geboren. Die Rollenverteilung im Hause Beauvoir entsprach den im Bürgertum vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen: Während sich die Mutter dem physischen Wohle der Familie widmete, war der Vater mit der seelischen Erziehung der Töchter betraut: „Eine Frau ist, was ihr Mann aus ihr macht, er hat ihre Form zu bestimmen, pflegte er [Beauvoirs Vater] zu sagen.“ (Beauvoir: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause) Bis Ende des Ersten Weltkrieges ging es der Familie Beauvoir finanziell gut. Doch nach einigen Fehlspekulationen schwand das Erbe und der Vater sah sich gezwungen, die Familie aus eigener Kraft zu ernähren. So kam es, dass sich die Mutter zusehends mit den Pflichten einer Hausfrau herumschlagen musste. Simone, die schon als Kind mit einer guten Beobachtungsgabe gesegnet war, begann diese monotone Tätigkeit zusehends mit Skepsis zu betrachten: „Nein, sagte ich mir, während ich einen Tellerstapel in den Wandschrank schob; mein ganzes Leben wird zu etwas führen. Glücklicherweise war ich nicht für das Dasein einer Hausfrau gemacht. […] Ich zog bei weitem die Aussicht auf einen Beruf der auf Verheiratung vor; das berechtigte doch noch zu Hoffnungen. Viele Leute hatten große Dinge vollbracht, ich würde eben das gleiche tun. Astronomie, Archäologie, Paläontologie hatten mich nacheinander verlockt, und immer noch spielte ich mit dem Gedanken an eine Schriftstellerlaufbahn.“ (Beauvoir: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause) Doch der Weg, den sie vor sich hatte, war noch lang.

Als Rebellin wird man nicht geboren, man wird dazu gemacht …

„Wenn man mir ungerechtfertigten Zwang auferlegen wollte, empörte ich mich dagegen. […] Ich wollte mich nur der Notwendigkeit fügen, menschliche Entscheidungen gingen mehr oder weniger aus bloßer Laune hervor, sie hatten nicht genügend Gewicht, um für mich zwingend zu werden.“ (Beauvoir: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause) Zuallererst musste sich die junge Simone das Recht erkämpfen, ihre Ausbildung fortsetzen zu dürfen. Unbestreitbar war, dass die finanzielle Lage ihrer Familie dazu beitrug, dass sie „gezwungen wurde“, einen Beruf zu erlernen: „Georges de Beauvoir erinnerte seine Töchter ständig daran, dass sie keine Mitgrift bekämen und also arbeiten müssten. Die für Frauen zugänglichen Berufe waren beschränkt, und die Lehrerlaufbahn schien eine der einzig möglichen zu sein. Mit einem kleinen Gehalt am Ende.“ (Monteil: Die Schwestern Hélène und Simone de Beauvoir) Nachdem sie ihre erste Schulzeit in der Katholischen Mädchenschule Cours Désir verbracht hatte, konnte sie mit ihrem 1925 erworbenen Baccalaureat am Institut Catholique ein Certificat in mathématiques èlementaires und am Institute Sainte-Marie de Neully eine Licence in lettres erwerben. Immer wieder geriet die junge Simone mit dem Bürgertum, dem sie abgesehen von der misslichen finanziellen Lage ihrer Familie immer noch angehörte, in Konflikt. Denn es wurde nach wie vor als unangemessen betrachtet, dass eine junge Frau einen Beruf ergriff und ernsthafte Studien betrieb. Dank ihres Durchsetzungsvermögens und Arbeitseifers gelang es ihr trotz allem, ein Studium an der Sorbonne zu beginnen und sich zeitgleich an der École Normale Supérieure auf die Agrégation in Philosophie (ein auf einem Wettbewerb basierendes Examen, welches zur Lehrtätigkeit an Universitäten und Gymnasien berechtigte) vorzubereiten. Während sich Simone über all dies ausdrücklich freute, schienen die anderen Mädchen, die damals ihr Schicksal teilten, alles andere als erfreut darüber: „Die meisten von ihnen, die schon recht erwachsen waren, dachten mit Bitterkeit daran, daß sie sich nie verheiraten würden; ihre einzige Möglichkeit, eines Tages ein erträgliches Leben zu führen, setzte voraus, daß sie erfolgreich ihre Examen bestanden.“ (Beauvoir: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause) Simone de Beauvoir begann zu erkennen, was sie trotz des gemeinsamen Zieles - dem Lernen - maßgeblich von ihren Studienkolleginnen unterschied: „Ich schritt weiter voran, ich entwickelte mich, während sie, um sich ja der Existenz heiratsfähiger junger Mädchen anzubequemen, zu verdummen begannen.“ (Beauvoir: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause) Simone de Beauvoir arbeitete weiter an ihrem Traum, der zum Greifen nahe war: „Ich würde meinen Lebensunterhalt verdienen und unabhängig sein.“ (Beauvoir: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause) [...]