Leseprobe
(Auszug aus den Gewinnerbeiträgen im Literaturwettbewerb „Soziale
Balance, ökologische Zukunft und politische Rechte“)
Anke Ames
Der Panzer und die Viola
Es war einmal und war auch nicht ein kleiner Junge mit Namen Mo.
Er war sieben Jahre alt und lebte in Syrien, in Damaskus. Mo
liebte es, mit seinen Freunden Fußball zu spielen, murmeln
und er liebte Landkarten. Seine Familie stammte aus allen Ecken
der Welt, aus Aserbaidschan seine Urgroßmutter, aus Deutschland
sein Großvater und aus dem Libanon seine Eltern. Und er
liebte es, im weißen Haar seiner Urgroßmutter zu
schlafen, im Nest aus Pferdehaar, weich wie Federn und Daunen.
Und sie war es auch, die ihm eines Tages eine Zeichnung zeigte,
auf der ein stattlicher Baum mit tausenden von Ästen gezeichnet
war. „Siehst du, Mo? Das ist unsere Familie, unser Stammbaum.
Er geht Jahrhunderte zurück. Und siehst du, wie viele Verwandte
wir haben? Und aus wie vielen Ländern sie alle kommen? Geh,
such die Länder auf den Karten. Und merke dir: so geht es
allen Menschen, allen Familien. Wir sind alle über die Zeiten
und Ländergrenzen hinweg miteinander verwandt. Deshalb ist
es auch so unsinnig, etwas gegen Menschen aus anderen Ländern
zu haben und erst recht, gegen sie Krieg zu führen. Wir
sind alle über die Zeiten und Ländergrenzen hinweg
miteinander verwandt.“Mo kuschelte sich bei seiner Urgroßmutter
ein und war stolz und glücklich. Wie reich ich bin! Dachte
er. Wie nur kann ich diesen Reichtum zum Ausdruck bringen, grübelte
er? Ja, in seiner Fußballmannschaft gab es schon Freunde
verschiedener Hautfarbe, aber manchmal kam ihm dieses Spiel doch
sehr britisch vor. Und die Ascheplätze, die es damals in
Damaskus gab, konnten ihm schmerzhafte Wunden zufügen. Etwas
regte sich in seiner Brust, er konnte es nicht benennen. Sehnsucht,
sagte Mama. Du hast Sehnsucht nach Ausdruck. Komm, lass uns ein
Konzert besuchen, ich weiß auch schon wo!
In den nächsten Wochen tat Mama oft sehr geheimnisvoll. Sie
besuchten einen Schneider, der Mo eine feine Garderobe anmaß.
Auch Mama suchte sich etwas ganz Feierliches, Duftiges aus. Seine
Schwestern und Brüder bekamen neue Kleidung und sein Vater
wählte einen Anzug. Und dann kam der große Abend. Sie
fuhren in einen Bezirk von Damaskus, den Mo noch nie gesehen hatte.
Es standen prachtvolle Häuser an den Straßen, die hell
erleuchtet waren.
„
Hier steigen wir aus?“ fragte Mo ungläubig. Nein, nicht
hier, noch nicht, heute nicht, sagte Papa. Hier wird Musik für
die Unwissenden gemacht, nicht für Musiker. Ich meine damit,
die Musik ist repräsentativ und verlogen. Wir fahren weiter.
Heute wirst du zum ersten Mal in deinem Leben Musik hören,
ich spreche von richtiger Musik. Und merke dir eines: wie immer
ein Mensch aussieht, wie reich oder arm er auch immer ist, ob er
Musiker ist, merkst du am ersten Ton. Der erste Ton muss dir unter
die Haut fahren, er muss dein Herz in Brand setzen, deinen Geist
mit Farben und Mustern erfüllen und deinen Körper mit
jeder Zelle atmen lassen. Heute Abend spielt Leroy Jenkins hier.
Komm, wir sind da!“
Mo und seine Familie betraten ein unscheinbares Haus, das zum Bersten
gefüllt war. „Das ist ein Flügel“, erklärte
Mama. Ein Mann hieß alle willkommen und das Publikum wurde
mucksmäuschenstill. Zwei Männer betraten die Bühne.
Der eine setzte sich an den Flügel.
„
Das ist Muhal Richard Abrams“, flüsterte Papa, „und
das ist Leroy Jenkins.“ Schlagartig begann die Musik und
es war, als würde der Himmel zerreißen. Mo fühlte
sein Herz heftig pochen. Das war eine ganz andere Welt, das war
das Mädchen, das immer so für sich war, das war der Siegestaumel
nach einem Tor, das war der Frühling in Damaskus, das waren
Instrumente, die schöner singen konnten als seine Musiklehrerin,
schöner und noch schöner als alles, was er je gehört
hatte. Es war atemlos. Es war der Ausdruck jenen Reichtums, den
er in sich fühlte. Und mehr noch als der Flügel ließ ihn
der Klang der Puppe jubilieren, auf der der wunderbare, schwarze
Leroy Jenkins musizierte. Mo war berauscht, entzückt, davon
getragen und erhoben.
Als es vorbei war, stürzte Mo in ein Loch. Aber Mama ermutigte
ihn: „Geh zu ihm und frag ihn, ob du seine Geige mal ausprobieren
darfst.“
Dieser Gedanke entflammte ihn. Papa begleitete Mo. Leroy lächelte
Mo an. „Gib dein Bestes, sagte er, und danke, dass du gekommen
bist!“ Mo nahm vorsichtig Geige und Bogen und tatsächlich!
Er bekam einen Ton heraus. Zitternd, aufgeregt, erhitzt. Es war
eigentlich ganz einfach.
„
Du bist im richtigen Alter um anzufangen“, sagte Leroy zu
ihm. Mo blieb fast das Herz stehen. Er, ein Musiker? Nichts wollte
er mehr, sehnte er brennender herbei. Dann würde er Tag für
Tag diese Welt betreten, er würde sie sogar selbst erschaffen.
In dieser Nacht tat Mo kein Auge zu. Immer wieder dachte er an
die Musiker, wie nett sie zu ihm waren, dass sie die Sprache der
großen, weiten Welt sprachen, dass sie zaubern konnten und
dass er, Mo, einer von ihnen sein würde.-
Mutter sucht einen Weg. Mutter sucht Wege, eine Violine aufzutreiben.
Wir haben kein Geld, eine zu kaufen. Das ist die traurige Wahrheit.
Mutter sucht einen Weg. Und findet einen. Eines Abends kommt sie
glückstrahlend nach Hause. Unter ihrem Arm trägt sie
einen Koffer, glänzend wie eine Schlange und uralt wie ein
Krokodil. „Deine Geige“, Mo, „ruft sie ganz außer
Atem.“ Ich habe sie eingetauscht gegen ein Huhn. Der verfressene
Said hat sie eingetauscht!“
Papa sucht einen Weg. Unterricht aufzutreiben. Er sucht einen Weg
und findet einen.
„
Dein Lehrer, Mo! Er wird dich unterrichten, wenn du nach ihm siehst,
nach seinem Haushalt. Es ist der alte Alaa. Er kann dir alles beibringen,
was du brauchst, um eines Tages deine eigene Musik zu machen!“
Was soll ich sagen? Das ist Glück. Nur so kann mein Glück
sein. Es gibt kein größeres Glück für mich,
als mit meiner Geige zu sprechen, die Noten, die Sprache der Musik
zu erlernen und zu spielen. Ich habe auch ein Buch, in das ich
meine eigenen Lieder schreibe.
So vergehen die Jahre. Ich spiele immer noch Fußball mit
meinen Freunden, ich gehe zur Schule und manchmal spiele ich meinen
Freunden und meiner Familie etwas vor. Ich habe ein Bild von Leroy
Jenkins im Internet gefunden, das habe ich mir ausgeschnitten und
in mein Geigenbuch geklebt. Heimlich spreche ich mit dem Bild.
Er gibt mir Kraft. Manchmal bin ich auch traurig, wenn etwas nicht
so klappt, wenn die Geige mir nicht folgen will. Aber mein Lehrer
sagt immer, dann musst du ihr folgen, deinem Instrument. Du musst
mit ihr sprechen, verstehst du?
So vergehen die Jahre. Schöne, stille Jahre, in denen mich
die Musik erfüllt.
Und dann passiert es.
In Syrien bricht der Krieg aus. In meiner Heimat herrscht Krieg.
Großmutter merkt es zuerst. Wenn wir Kinder das Zimmer betreten,
verstummen die Gespräche. Nachbarn kommen, ständig tauscht
man Nachrichten aus. Ich bin alarmiert. Alaa sagt, ihr müsst
gehen, geht weg. Wir hören Schüsse, manchmal ganz in
der Nähe. Die Nachbarn bleiben weg, jetzt schießen sie
auf uns, wenn wir nicht vorsichtig sind.
Und dann passiert es. Alaa nimmt sich das Leben. Und dann passiert
es. Als ich von der Schule nach Hause gehe, mit meinem Geigenkoffer
unter dem Arm, glänzend wie eine Schlange und uralt wie ein
Krokodil, sehe ich Panzer. Ich sehe Panzer.
[Auszug]
Karin Posth
der hurrikan
zwischen ozean und himmel
verhöhnt der herrscher der luft
seit tagen die hafenstadt.
während er sich aufbaut
als einäugiger riese, nimmt er
dem horizont das durchsichtige und das helle,
trägt das dichte und dunkle an land.
er überlässt uns
der angst. wir verstummen und starren
in schwärze. von weitem hören wir
die schreie der möwen, die nicht
hinausfinden und vergebens löcher
in wände stanzen. an land
das paaren von sturm und regen.
sie stampfen über das rückgrat der
küste hinweg. wüten. wühlen.
reißen an dächern,
reißen an bäumen und büschen.
führen stur den befehl des
grimmigen herrschers aus.
tagsdrauf atmet die landschaft verlegen aus.
ausgeblutete farben. geröll, gestrüpp, gestein.
nach wochen hält der schoß neues
grün bereit. alles fängt
noch einmal an. wir
staunen, dass es weitergeht.
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