(Auszug aus der Erzählung mit dem ersten Platz)

 

Kim Schorn


Bekanntschaft mit einer anderen Welt


Das Gebäude, ein Überrest aus der Kolonialzeit war recht beeindruckend: groß, schön verputzt, mit Fenstern aus Glas, und mit fast barock anmutenden übermäßigen Verzierungen rundherum. Es passte absolut nicht in die Umgebung, die aus unverputzten Häusern und Hütten bestand, die großteils Plastikfolien anstelle von Fenstern hatten. Ich konnte nicht behaupten, dass mich die ärmliche Umgebung überrascht hatte. Die hatte ich natürlich erwartet in Lateinamerika, aber die Bibliothek überraschte mich sehr. Natürlich interessierten mich als Studentin Lateinamerikanischer Literatur vor allem die Bücher in der Bibliothek und weniger das Gebäude rundherum, aber trotzdem musste ich zugeben, dass ich beeindruckt war und fast ehrfürchtig das Bauwerk betrat, als ich zum ersten Mal ankam. Hier also würde ich mein Ferialpraktikum absolvieren!
Wie ich fast erwartet hatte, waren meine Kollegen nicht sehr gesprächig und ich hatte viel Zeit, um die Bücher zu durchstöbern. Ein kompletter Flügel der, über zwei Stockwerke mit je zwei Flügeln verteilten, Bibliothek wurde mir zur Aufsicht überlassen. Es war das Viertel, das die Lateinamerikanische Literatur beherbergte. Der Rest schien Europäisch und Amerikanisch zu sein. Ich kümmerte mich nicht weiter um den Rest sondern begann bei den Lateinamerikanischen Autoren mit A und hoffte, dass ich bis zum Ende meines dreimonatigen Aufenthalts bei Z angekommen sein würde. Ich würde natürlich nicht alle Bücher lesen, aber ich wollte zumindest die wichtigsten Autoren gelesen haben. Wozu war ich denn sonst hier? Wie zu erwarten, war nie viel los. Die größte Menschenanzahl, die ich jemals zu einem Zeitpunkt in meinem Flügel zählte, waren acht Menschen, inklusive mir, der Putzfrau, und der Kollegin, die gerade auf dem Weg zur Toilette vorbeikam.
So hatte ich also viel Zeit zum Lesen und wenig aufzuräumen. Die meisten der Bücher waren wohl in den letzten hundert Jahren nicht aus dem Regal genommen worden. Am Abend jeden Tages ordnete ich die Bücher, die die Besucher gelesen hatten, in die Regale zurück, drehte noch eine Runde um zu sicher zu gehen, dass keine Bücher herumlagen und ging nach Hause.
Unterwegs ging ich an einem Tortilla-Stand vorbei, wo ich täglich mein Abendessen zu mir nahm. Dann begab ich mich in mein bescheidenes Zimmer etwa 20 Gehminuten entfernt von der Bibliothek, in einem kleinen Häuschen mit vier Zimmern, etwa fünfzehn Bewohnern und einem einzigen Glasfenster (in meinem Zimmer). Ich wusste, dass das Zimmer, das ich bewohnte, für hiesige Verhältnisse ein Luxus war, weshalb ich mich auch nie über die Kakerlaken beschwerte, die mir jede Nacht Gesellschaft leisteten, und die Tatsache, dass es etwa jeden zweiten Tag fließendes Wasser gab, stillschweigend zu Kenntnis nahm. Ich war zum Glück nicht sehr anspruchsvoll, aber ich wusste auch, dass ich einem Großteil meiner Freunde und Bekannten nicht empfehlen konnte, mich hier besuchen zu kommen – obwohl mich selbst schon vom ersten Tag an die landschaftliche Schönheit und die Offenheit und Freundlichkeit der Menschen für das Land begeistert hatten.

Es begann etwa eine Woche, nachdem ich meine Arbeit in der Bibliothek begonnen hatte: Ich kam in der Früh wie immer an meinem Arbeitsplatz an und machte mich auf die Suche nach einem Buch von Isabel Allende, das ich noch nicht gelesen hatte. Da fiel mir ein Buch auf, das am Boden lag. Natürlich dachte ich, dass ich es am Vorabend beim Aufräumen übersehen hatte, schenkte der Tatsache keine Beachtung mehr, ordnete das Buch ins Regal ein und vergaß den Vorfall. An diesem Tag kamen insgesamt nur etwa drei Menschen in meinen Flügel zum Lesen. Alle waren schon recht alt, und erweckten bestimmt nicht den Eindruck, dass sie Bücher einfach durch die Gegend werfen würden. Trotzdem fand ich am Abend des selben Tages gleich einen ganzen Haufen Bücher am Boden verstreut. Verwirrt beschloss ich, den Besuchern besser auf die Finger zu sehen. Ich ordnete die Bücher in ihre Regale ein, vergewisserte mich noch einmal, dass ich keine Bücher übersehen hatte, und ging nach Hause.
Am nächsten Morgen hatte ich das alles schon wieder vergessen. Ich kam in die Arbeit, völlig unvorbereitet auf das, was mich erwartete: es sah ein bisschen wie ein Schlachtfeld aus, nur dass die Verletzten Bücher waren, keine Menschen. Auf den ersten Blick dachte ich, dass mindestens hundert Bücher auf dem Boden lagen, und dass ich den halben Tag brauchen würde, um sie aufzuräumen. Letztendlich brauchte ich nur etwa 20 Minuten um das Chaos zu beseitigen. Den restlichen Tag war ich damit beschäftigt, mich zu fragen, wie die Bücher aus den Regalen gefallen sein konnten. Würde ich es nicht besser wissen, würde ich ja fast an das Werk von Gespenstern glauben.
Als ich am Abend wieder aufräumte, lagen wieder überraschend viele Bücher am Boden, aber es war nicht so schlimm wie am Morgen. Diesmal achtete ich genauer darauf, welche Bücher am Boden lagen. Die meisten davon kannte ich nicht – nicht einmal die Autoren kannte ich. Ich ließ einige der Bücher auf meinem Schreibtisch liegen, um sie mir morgen genauer anzusehen. Dann sah ich mich wieder um, um noch einmal ganz sicher zu gehen, dass auch wirklich alle Bücher an ihren Plätzen in den Regalen standen, und ging zu meinem üblichen Tortilla-Stand zum Abendessen.

Am nächsten Morgen war ich auf das Chaos vorbereitet: Es war nicht so schlimm wie befürchtet, aber wieder lagen Bücher am Boden. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass keiner meiner Kollegen in der Bibliothek etwas mitbekommen hatte, und auch keine ähnlichen Erfahrungen gemacht hatte, beschloss ich, diese Nacht hier zu bleiben. Ich wollte mich nicht vor meinen Kollegen blamieren, deshalb erzählte ich ihnen nichts. Ich musste gestehen, dass ich ein bisschen Angst hatte, aber andererseits: was sollte schon passieren? Geister gibt es bekanntlich nicht, und es gab bestimmt eine ganz einfach Erklärung, warum die Bücher am Boden lagen. Ich dachte an Erdbeben oder dergleichen.
Inzwischen studierte ich die Bücher, die aus den Regalen gefallen waren, und nach einiger Recherche erkannte ich, dass es ausschließlich indigene Autoren waren, die großteils in ihrer Sprache (verschiedenen Maya-Dialekten) geschrieben hatten. Die Bücher, die ich hier hatte, waren alle in Spanisch, aber es handelte sich bei den meisten um Übersetzungen. Ich las in einige der Bücher hinein, aber bis auf die indigene Herkunft ihrer Autoren erkannte ich keinen weiteren Zusammenhang. Andererseits: wenn ein Erdbeben für das Chaos verantwortlich war, dann war natürlich auch nicht zu erwarten, dass die Bücher nach irgendeinem Muster aus den Regalen fielen. Ungeduldig wartete ich auf die Nacht, um zu sehen, was passieren würde.
An diesem Abend fand ich keine Bücher am Boden, aber das lag wohl daran, dass ich den ganzen Tag sehr gut aufgepasst und allen Besuchern genau auf die Finger gesehen hatte. Ich ging am Abend, wie üblich zu meinem Tortilla-Stand zum Abendessen. Davor ging ich aber noch einmal auf die Toilette, um das Fenster dort zu öffnen, sodass ich danach zurückkommen konnte. Später deckte ich mich noch mit ein bisschen Lebensmittelvorrat und einer Taschenlampe ein und schließlich kehrte ich zurück in den Kolonialbau, der in der Nacht noch beeindruckender und ein bisschen Angst einflößend wirkte. Nach kurzem Zögern umrundete ich das Gebäude bis ich an dem offenen Fenster der Toilette ankam. Es war recht hoch, und ich brauchte einige Zeit, um hochzuklettern, aber letztendlich schaffte ich es, und betrat über diesen etwas ungewöhnlichen Weg, wieder meine Arbeitsstätte. Ich hatte natürlich nicht vor zu schlafen, denn ich musste ja sehen, was mit den Büchern passierte, aber ich war sehr müde, deshalb spritzte ich mir noch kaltes Wasser ins Gesicht, bevor ich in meinen Flügel der Bibliothek zurückkehrte. Ich hatte nun wirklich Angst. Es war nicht wirklich dunkel, denn durch die vergitterten Fenster schien die Straßenbeleuchtung, und außerdem hatte ich meine Taschenlampe, aber allein in so einem großen Gebäude, mitten in der Nacht, wo hier doch eindeutig komische Dinge vor sich gingen, das stärkte nicht gerade mein Selbstbewusstsein. Ich bemühte mich, mir einzureden, dass es lächerlich war, und dass es nichts gab, vor dem ich mich fürchten musste. Mit mäßigem Erfolg.
Ich setzte mich erst hin, um zu lesen, schlief dabei aber fast ein. Daher stand ich wieder auf und verbrachte die restliche Zeit damit, langsam und so leise wie möglich Runden zwischen den Regalen zu drehen. Lange Zeit passierte überhaupt nichts. Kein Buch bewegte sich und alles war still. Doch kurz nach Mitternacht sah ich plötzlich ein Buch am Boden liegen. Es war von einem der indigenen Autoren, die ich mittlerweile kannte. Ich hob es auf und sah mich noch einmal gut um. Ich leuchtete mit der Taschenlampe in alle Richtungen. Nichts.
Plötzlich lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich hatte das deutliche Gefühl, dass jemand mich anstarrte. Langsam drehte ich mich um und leuchtete den Gang zwischen den Regalen entlang. ...