Ein Netz von Wegen. Erzählungen und Gedichte über die Liebe

Leseprobe:


1. Preis

Tengis Khachapuridse

Der letzte Flug

Die Stewardess muss ihre Frage auf Englisch und etwas lauter wiederholen, weil ich die Frage nicht beachtet habe. Sie will wissen, ob ich Tee oder Kaffe trinken möchte. Meine Antwort ist nur ein Kopfschütteln und gezwungenes Lächeln. Ich will nichts. Gar nichts. Mein einziger Wunsch ist, dass die Maschine so schnell wie möglich in Berlin-Tegel landet. Der Monitor vor mir zeigt die Fluggeschwindigkeit an: neunhundertfünfzig Stundenkilometer, aber man kann es gar nicht merken und ich habe das Gefühl, als wären wir irgendwo zwischen dem von unzähligen Sternen übersäten Himmel und einem namenlosen Kontinent hängen geblieben. Eine neue Info: bis Berlin noch zwei Stunden, also eine Ewigkeit… Bitte, bitte, schnell, schneller! Denke ich verzweifelt und rede mir ein auf diese Weise der Crew stumme Signale senden zu können. Bitte, schneller!
In drei Tagen wirst du operiert. Brustkrebs, hast du am Telefon gesagt.
Ich wäre am liebsten vor dreißig Jahren nach Berlin gekommen, aber damals war eine Reise nach Westen einfach undenkbar. Ich lebte in einem Land, in dem fast alles verboten war.
„ Keine Privatkontakte mit Touristen! Kein Adressenaustausch! Geschenke ablehnen und erst im Notfall annehmen, aber dann sofort bei uns vorlegen! Sie wissen ja, wo - sechster Stock, Zimmer…“ Das war ein Befehl für uns, zehn künftige Reiseleiter, nach der Abschlussprüfung des Dolmetscherkurses. Die bedrohlich leise Stimme eines untersetzten Mannes mit erstaunlich großen und abstehenden Ohren, der während der Prüfung nur geschwiegen und uns unentwegt angestarrt hatte, war trotz der Maihitze irgendwie unangenehm kalt. Dieser Mann war das gefährlichste Mitglied des Prüfungsausschusses. Wir nickten stumm. Ich weiß nicht, was die Anderen dabei gedacht haben, aber für mich, einen Germanistikstudenten, war diese Arbeit eine einzige Chance mich endlich mal mit den Menschen unterhalten zu können, deren Muttersprache ich noch drei Semester lang studieren musste. Anders war jeder Kontakt zu den Ausländern unmöglich und gefährlich. Verboten. Strafbar. Sogar Briefwechsel war ein Problem, aber ich habe dir geschrieben.
„ Komm wenigstens nach Ostberlin, da dürft ihr doch hin, oder?“ Hast du mich vor dreißig Jahren gefragt. Du hast in einem anderen Berlin gelebt. In einer anderen Welt.
„ Ja, sicher. Ich komme spätestens im Mai“ Glaubte ich, denn als den Besten an unserer Fakultät wollte mein Institut mich zum Weiterstudium nach Leipzig schicken.
„ Ja? Schön!“ sagtest du erfreut und gabst mir zum Abschied die Hand, wobei du mir einen kleinen Zettel heimlich in die Hand drücktest.
„ Wenn du dort bist, schreib mir sofort. Dann komme ich rüber“, fügtest du leise hinzu. Es waren deine Eltern und die ganze Reisegruppe in der Nähe und beobachteten lächelnd unseren unschuldigen Abschied. Kein Kuss. Keine Umarmung. Nur ein kurzes „Wiedersehen!“ Du - erst siebzehn und ich dreiundzwanzig, als du zusammen mit deinen Eltern nach Georgien kamst. Eine Reisegruppe aus Westberlin, die ich betreuen musste, hatte nur zwei Tage Aufenthalt in Tbilissi. Miteinander haben wir kaum gesprochen. Nur verstohlene Blicke, schüchternes Lächeln und ein paar Phrasen. Immer unter der heimlichen Beobachtung zahlreicher KGB-Spitzel im Hotel: Portiers, Kellner, Gepäckträger, Busfahrer, Souvenirverkäufer… Doch unsere kurzen Blicke sprachen mehr als alle Worte der Welt. Und das hat auch gereicht. Auf dem Zettel stand deine Adresse. Gleich nach deiner Abreise habe ich dir einen kurzen Brief geschrieben und deine Antwort kam ungefähr nach einem Monat. Schneller ging es nicht. Zwei Wochen hin, zwei Wochen zurück. Im besten Fall. Deine Freude über meinen Brief konnte ich fast körperlich fühlen. Natürlich habe ich sofort die Antwort geschrieben und so hat es angefangen - ein dreißigjahrelanges Kapitel in unserem Leben. Nach ein paar Briefen waren wir ineinander restlos verliebt. [...]

(Auszug)


2. Preis

Hanna Fleiss

Damals

Flammen sprangen,
Ich spürte sie in deinem Blick.
Verwandelt, verwirbelt, ein Zauber,
Der über uns kam.

Und ich wie gebannt,
Ein Wimpernflug, ein Zögern.
Wirst du mir wehe tun? Ich sah
Den Durst in deinen Augen.

Nicht wissen, dass es geschah.
Ich kam mir nah, nie war ich
Schöner, nie flog so mir
Das Haar.

Du hältst meine Hand,
Du schweigst, greifst zum Glas.
Und jeder denkt für sich: Das Wunder.
Du. Dass du da bist.


3. Preis

Harald Woschitz

In den Schattenblüten

Den hellen Mittagswolken nachgeflogen
Weich gelandet in gelben Ginsterbüschen
Sprachen wir, so dass sich unser Atem mische,
vom kühnen Ziel: dem Glück des Regensbogens.

Der Abend kam, die Hoffnung aufgesogen
Wie Licht und Plan, es gab kein Gold zu fischen
Es blieb nur eins: Du hast die Grenze zwischen
Der Welt um Dich mit Lippenrot noch nachgezogen

Das Licht, das wir nicht einmal empfunden haben,
Schenkt dir im Tintenblau des dunklen Abends
Für deinen Weg das Losungswort: Glück zu

Und eingesunken in den Schattenblüten
Lichtlos, damit wir diesen Abschied hüten
Schließt sich der Bogen.
Und aus Du wird wieder Du.