Die Gewinnergedichte des "Lyrikwettbewerbes Elemente"


1. Preis

Norbert Rheindorf

Balance

An diesem Tag
wurden die Schritte meines Vaters
leiser
immer ferner seine Rufe
irgendetwas wie: du kannst das
alle Geräusche ausgeblendet
der Kopf wie in Watte gepackt
und ich fuhr ohne Stützräder
ohne seine Hand an meinem Rücken

du kannst das
und doch bleibt Leben
Ringen um Balance
jeder Tag
ein Stück zartbittere Sehnsucht
nach damals
als alles einfach
und sicher
und Zukunft war

man posiert bei jedem Fortschritt
feiert das Erreichen
jeder Station
doch die Augen werden müder
man merkt
man ist auf dem Weg zurück
die Schritte immer leiser
und niemand ruft
mehr

du kannst das


2. Preis

Günther Bach

Vorfrühling

Reglos
vor blassgrauem Himmel
hängen die Zweige der Birke,
dünn wie das Haar einer Greisin.
Die Schritte hallen
auf hartem Grund.
Die Luft ist kalt.

Ein fahler Mondschein
schimmert durch schwarzes Geäst.
Der schwache Schein
wirft keinen Schatten.
Ganzin der Ferne
rollen Räder
auf eisernem Gleis.

Doch dann höre ich es,
tröstlich und sanft,
das Lied der Amsel.


3. Preis

Hanna Fleiss

Besuch bei Heine

Dort oben auf dem Sockel sitzt der Heine.
Erst siehst du seine langen Dichterbeine,
riskierst du aber einen Blick noch höher,
kommt dir der ganze Kerl entschieden näher.

Den hat man hier so halb und halb versteckt,
du hast ihn im Vorbeigehn nur entdeckt.
Die Uni thront in seinem Bronzerücken,
gewiss heut nicht zu jedermanns Entzücken.

Passt der noch rein in diese deutsche Welt?
Den hat man beinah heimlich hingestellt,
so abseits von dem allgemeinen Trubel.
Na ja, er wollte sicher keinen Jubel.

Dir fallen ein paar Verse vor die Füße,
du schickst nach oben deine besten Grüße.
Und du besinnst dich, wirfst noch einen Blick
zu Heine hin, und langsam geht‘s zurück.



4. Preis

Peter Frank

Rungholt

Einige starben in ihren Betten.
Andere banden sich zusammen.

Tierkadaver trieben vorbei,
Windmühlen, Wagenräder.

Es rollte das Meer.

Noch heute stößt der Pflug
gegen Steine, Skelette.

Keine Glocke verkündet
den Ort im Grab der See.

Vom Leben erzählen die
Scherben im Watt,

die versunkenen Münder
der Brunnen.


5. Preis

Gerhard Nath

Über Mut im Alter

Mein greiser Nachbar steif und krumm
Trotzt knorrig stumm dem Februar.

Noch fühlt der Weise den April :
Er steht mit blütenweißem Haar
Im Bienenschmuck am Gartenzaun.

Sein dicker Schädel summt und brummt,
Er meint, es sei Migräne,

Draus wächst im Juni Übermut.
Er färbt sich seine Mähne
Grün, und stolz, beim Tanz auf einem Bein,

Wünscht er sich nochmal Kinderlein.
Er ist aus gutem Holz.

Als endlich der Oktober kommt
Zeigt er uns seine Söhne :
Die heißen alle JONATHAN

Sie haben rote Hemden an
Und jeder eine Made.

Aus „Lieder aus der Alterskindheit“

 

weitere Gewinnergedichte