Angelika Zöllner

A 46

I

(Auszug)

Yasin Ali. Er lehnt seit Stunden über dem wuchtigen Lenkrad seines knallblauen Lasters und starrt auf die Straße. Dunkle Kraushaare fallen ungeordnet über seine Gedanken und über die Stirn. Erst 35 km ist er vorangekommen, zähflüssig zwischen Wuppertal-Sternenberg und Düsseldorf-Zentrum. Dieser elende Schleichschritt. Eigentlich sollte er längst die Gemüseladungen aus der Großmarkthalle abgeholt haben. Die kleinen, in Plastiktüten gebündelten Paprika, die frischen Geländetomaten, die Zwiebelsäcke, blaue Oliven und das appetitlich duftende Brot. Gerne hätte er jetzt einen noch warmen Sesamkringel probiert.
Er hat Zeit. Stau ist wieder angesagt, nie wird er aufhören, scheint es, allenfalls sich unterscheiden durch schneckenkriechendes Tempo oder gänzliches Stillestehen. Aber das macht nichts aus. Im Staustehen vor den Wagen und Baustellenarrangements kann er seine Gedanken sortieren.
Er klemmt sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Eigentlich hat er die Bazillen des Alltags für heute Vormittag genug eingeatmet. Gern würde er jetzt für eine kleine Kaffeepause eine Oase der Erholung aufsuchen. Warum sie eigentlich keine warmen Getränke an den Parkplätzen verkauften ... bei diesem Schleichen auf der A 46 seit Jahren könnte die Einrichtung einer Coffeebar doch ein einträgliches Geschäft sein.
Um sich von den Strapazen des überlastenden Alltags zu entspannen, denkt er, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Manche nehmen sich ein paar Tage eine häusliche Grippe. Andere verreisen in die südliche Wärme und Kultur eines andersartigen Landes. Z.B. auch in seines - seine heimatliche Türkei. Manche Leute wandern lieber durch die steile Schroffheit einer kühlen, sie beruhigenden Berglandschaft einem fernen, nie ganz zu erreichenden Himmelsgewölbe zu. Und einzelne verbringen sogar eine Auszeit in einem verschwiegenen Kloster. Er hingegen braucht nur 250 kurze Meter hinter seinem privaten Zuhause die A 46 zu betreten. Natürlich mit dem Laster, denn zu Fuß wäre es ja nicht erlaubt, obwohl man da häufig schneller vorankommen würde.
Und sofort fühlt er die Ruhe wie ein Morgengebet sich ausbreiten. Er fühlt in allen Zellen etwas Köstliches. Stille. Angehaltenes Schweigen. Wenn nur dieser betäubende Parfumgeruch nicht wäre - nein, von keiner ihn verwirrenden, aufregenden Frau, lediglich von einer ihn leitenden Asphaltroute. Wenn andere viel Geld ausgeben für teuer zu erwerbende Düfte wie Lindenholz, Jasminblüte, Granatapfel- oder Orangenaroma, genießt er hier gratis die geld- und rezeptfreie Autobahnluft.

Heute morgen bog er wie meist bei der Auffahrt Wuppertal-Oberbarmen ein. Nach sich endlos wälzenden Zeitminuten erreichte er nach wenigen hundert Metern erst die Raststätte Sternenberg-Nord. Da standen schon die Trucks, Reihe an Reihe. Ob sie auch gerade ihr Morgengebet verrichteten? ½ 8.00 morgens erst und keine Möglichkeit, sich vorwärts in einen neuen Tag zu bewegen. Wenn er sich auch schon wieder herauslösen würde aus der Schlange und hier zu einer Pause anschließen?
Rückwärts ging es auch nicht - sprich, bewegte er sich eben seitwärts. Bog ab. Stellte seinen kleinen Transporter in eine letzte Nische neben die Fülle der sich reihenden Trucks. Nett sahen sie aus. Früher waren das doch immer so grauschwarze Dinger, allenfalls soldatengrün. Aber heutzutage - er staunte. Eigentlich hatte er noch nie richtig hingesehen. Das hat sich ja richtig verändert, wie die bunt gewürfelten Häuser an der türkischen Riviera sah das hier aus. Oder wie ein Ort für Kinderspielzeuge! Feuerrot, knatschblau wie sein Wagen, blankes Weiß, frühlingsstarkes Grün, ja sogar gelbsonnig war einer der Trucks. Ihm fielen die Fahrerfenster auf. In einem von diesen stand vorne ein weißes Schild. "Wolfgang", las er. In einem anderen Fenster stand: Das Leben ist viel zu kurz, um einen kleinen, popeligen Truck zu fahren. Dieser hier war wirklich riesig, im Gegensatz zu seinem kleinen blauen Transporter. Und in strahlendem Weiß ausgestattet. An der Wagenseite stand: Südkraft.
Dann schaute er auf die Wiese. Endlich war später Frühling. Das Gras hatte zu sprießen begonnen. Da lagen doch tatsächlich zwei auf dem Boden und genossen die Sonne.
„Was macht ihr da auf dem kalten Boden“, fragte er überrascht, „wir haben erst 10 Grad plus.“
„ Macht nix“, entgegnete einer der Männer, „Bodenturnen, da wird einem warm. Kannst ja mitmachen!“
„ Was soll man sonst machen“, ergänzte der andere Sportsfreund und hob gerade die Beine zum Radfahren. „Vor halb neun bis neun kommen wir hier eh nicht flüssiger weiter, also kann ich auch Sport machen und wärmer werden dabei.“
Yasin Ali beschloss, für die Fahrt zwei belegte Käsebrötchen zu kaufen. Er könnte sich auch die Zeit mit Tanken vertreiben, aber der Diesel war hier noch mal um einige Eurocent teurer als sonst. Also las er lieber die Schilder. Ein riesiges blaues mit viel leerem, unbeschriebenem Raum darauf, stand direkt neben der Autobahn. "Autohilfe" entzifferte er und starrte auf den freien Raum auf der Tafel. Wer Angebote hat, "kann hier sein Inserat reinsetzen". Ob auch "Autobahnhilfe" gemeint ist? Gleich daneben war eins dieser Wahlplakate platziert: "NRW soll stabil bleiben", las er.
Und begriff. Die reinste Ironie. Bestimmt auch deswegen diese jämmerlichen Baustellen, unentwegte Verbesserungen an der Autobahn hier. Und wenn sie halbwegs fertig sind, kommt die nächste - dann die übernächste - anschließend sicher die Erneuerung der Schallwände und so fort. Die werden ja nie fertig ...
Yasin Ali verzog sein Gesicht in komische Nachdenklichkeit. Als er gerade die Brötchentüte auf dem Beifahrersitz abgelegt hatte und sich wieder zurück drehte, fiel sein Auge auf ein Kind.
„Was treibst du denn hier - am frühen Morgen an der A 46“, wunderte er sich. Es lief gerade zu einer Bank.
„Warten“, sagte es und lachte. „Eigentlich wollten wir zur Oma - bis nach Aachen. Aber - das schaffen wir vielleicht nicht.“
„ Hast du keine Schule heute?“ fragte Yasin Ali.
„ Erst in zwei Wochen.“
Das Kind hob ihm den Arm entgegen, und erst jetzt sah er es. Das Mädchen, denn er erkannte es jetzt als solches trotz der noch winterlichen Verpackung am zarten Gesicht, schien den Arm gebrochen zu haben. Er bemerkte ein paar eindringliche helle Augen, türkisblau, eine Farbe, die ihn erinnerte an das glitzernde Meer zuhause. Die türkische Riviera. Darüber trug sie bräunliches Haar zu zwei Rattenschwänzen aufgebunden. Seine Farbe sah fast aus wie der Landschaftsboden an manchen Plätzen im Taurusgebirge. Erdig, mit einem sonnengewärmten Rot darin. Etwas schnitt ihm ins Herz.
„Du hast dir was gebrochen?“
Sie nickte.
„ Ich wollte nur aus dem Fenster gucken - weil der Zeppelin da war ... da bin ich auf den Stuhl geklettert und gekippt.“
„Hm, das nächste Mal bist du vorsichtiger“, grinste Yasin Ali. „Übrigens, das ist mir als Kind auch passiert.“ Er erzählte in zwei, drei Sätzen seine Geschichte von damals und streifte den linken Ärmel zurück. Das Mädchen sah einen leicht verbogenen Arm. „Am Ellenbogen ist er schief zusammen gewachsen. Aber - ihr habt gute Mediziner hier in Deutschland, da passiert das sicher seltener. Außerdem, ich kann alles normal bewegen.“
„Das ist die Hauptsache“, sagte die Kleine ernsthaft und schaute ihn unter den Lidern mit den türkisblauen Meeraugen an.
„Manchmal, wenn wir hier lang fahren“, fuhr sie dann fort und schaute etwas bekümmert in die sich stauende Richtung der A 46, habe ich alle Lastwagen gezählt. Dann habe ich in Rechenkästchen gezeichnet, wie viele es waren - rote, grüne, sogar gelbe und viele graue.“
„Ein lustiges Spiel“, wunderte sich Yasin Ali und lachte. Dabei wischte er sich fast verlegen gegenüber der Kleinen mit den Fingern über seinen Schnurbart. „Da hast du keine Langweile gehabt.“
Und dann erklärte sie, „die A 46 ist doch schon ewig so voll. Mein Opa in Aachen hat gesagt, er wünscht sich einen einzigen Tag im Leben, an dem er hier ohne Baustelle fahren kann!“
„Und?“ Fragte Yasin Ali entzückt über die Kleine. „Hat der Opa das erlebt?“
„ Der ist doch schon 14 Jahre tot“, erwiderte sie leise.
Yasin Ali schwieg betroffen und kräuselte seinen Schnurbart. Die Kleine scharrte mit den Fußspitzen auf dem Asphalt, als ob sie dabei eine Idee herauskratzen könne. Vierzehn Jahre ... das war exakt die Zeit, die er in Deutschland verbracht hatte. Und vermutlich staute sich die A 46 schon viel länger.
Da hob er wie von ungefähr den Blick zur Seite und sah die Mutter herankommen. Sie besaß die gleichen auffälligen Augen wie die Tochter, auch sie fast ein Kind der sommerflirrenden türkischen Meerfarbe, eine deutsche Nymphe mit dem gleichen Haar des Taurusgebirges, braunerdig und ein feiner Stich Sonnenröte zum Wärmen darin. Keine häufige Farbe des deutschen Haars. Sie sah ihrem Kind ähnlich, nur das Gesicht war natürlich ein wenig älter, vielleicht um die 28. Ein bisschen Traurigkeit hing ihr in den Augen wie ein türkischer Nebelmorgen - manchmal im März. Vielleicht war es auch nur Nachdenklichkeit, die verschwand, wenn dieser Fahrzeugnebel hier auf der Autobahn sich auflöste.
Wie Yasin Ali diese heimatlichen Farben hier in diesem oft wenig sonnigen Land vermisste. Er schaute eine Weile. Dann stieg er wieder in den blauen Truck ein, ließ seinen Motor an und blickte unschlüssig auf die sich stauende Schneckenmenge der Autos.
„ Es hat keinen Zweck, weiterzufahren“, rief die Kleine und hob den Gipsarm. „Du kannst ebenso gut hier bleiben.“
Yasin Ali blickte in seine Zielrichtung und dachte, wie sauer sein Onkel sein würde, wenn er so spät mit der Gemüseladung zurückkam. Aber dies hier schien wieder einmal höhere Gewalt. Allah bestimmte, was gut war.
„Ok“, sagte er, „dann werde ich eben schon hier Frühstück machen. Lass uns mal nach einem warmen Kaffeebecher schauen.“ Er stieg wieder aus und lief mit schnellem Schritt zum Shop. Bald kehrte er mit einem Plastikbecher heiß dampfender Brühe zurück. Es gab Bänke und sogar Tische. Er ließ sich auf einer Bank nieder, nicht auf der gleichen, an der die Kleine, Fatma hieß sie, und ihre Mutter saßen, sondern auf einer daneben. Ein gebührender Abstand, er wollte sie nicht erschrecken.
Fatma jedoch sprang bald unbekümmert hin und her zwischen den beiden. Sie konnte trotz ihrem Gipsarm nicht lange stillsitzen. Es gab ja genug zu gucken. Wie alt mochte sie sein, sieben oder acht Jahre?
Yasin Ali zog seine Käsebrötchen aus der Tüte. Die Mutter der Kleinen hatte ebenfalls Käsebrötchen, aber sie sahen anders belegt aus, vermutlich von zuhause. Außerdem packte sie gerade zwei Kringel aus.
„Sesamkringel“, entfuhr es ihm. „Mögen Sie türkisches Backwerk? Oder griechisches? Die Dinger gibt es ja auch in Griechenland. Die Türken waren lange genug dort, um die Essgewohnheiten und so mache Sitte zu mischen.“
„Wir fliegen doch oft in die Türkei in Urlaub“, rief die Kleine fröhlich. „Nach Alanya zum roten Turm.“
„Alanya?“ Yasin Ali horchte auf. „Alanya kenne ich gut. Da habe ich mehrere Jahre gearbeitet. In einem kleinen Hotel. Das war hart, täglich wenigstens 11 Stunden Arbeit. Gekellnert, Frühstück gemacht, abgerechnet, die Gäste bei Laune gehalten usw. - in der Hochsaison war ich an der Rezeption. Dort ging es dann bis zu 20 Stunden hintereinander ohne Schlaf, auch wenn man nicht immer etwas Taugliches zu tun hatte.“
„Ich ahne das“, erwiderte die Mutter der Kleinen und nickte ihm aus den meerglitzernden Augen zu. „Wir haben das auch beobachtet. Diesen Schlafmangel halten wohl nur junge Leute aus. Im Winter können sie das nachholen - wie die Igel.“
„Im Winter gibt es nix zu essen“, fiel Yasin Ali ein, „wenn im Sommer nicht genug Kohle verdient wird. Der Winter ist herb im Taurus oben. Ich komme aus einem Dorf von dort, ziemlich abgelegen, auf 1200 Meter Höhe über dem Meer.“
„ So hoch“, wunderte sich die Kleine und machte die Augen groß. „Ist es schön da oben?“
„Wunderschön“, stammelte Yasin Ali, weil ihn jetzt die Erinnerung wie eine Welle seines geliebten Meers überwältigte. „Eine herrliche, unbeschreibbare Landschaft. Manchmal hat die Erde eine Farbe wie dein Haar.“ Er war fast versucht es zu streicheln. „Felsen, Pappeln, Steineichen, Maulbeerbäume, Tamarisken, Bienenkorbreihen usw. ... Mein Großvater hat Bienen gezüchtet, und mein Vater war der Müller im Dorf. Da kannst du heute noch sehen, wie das Korn gemahlen und gesiebt wird - falls du mal hinkommst. Für euch Deutsche ist es, als sei die Zeit dort stehen geblieben. Das Haus hat mein Vater selbst gebaut. Die Steinmauern mit Lehm versiegelt. So was kennt ihr hierzulande gar nicht mehr. Innen ist es gemütlich, besonders wenn man ein Feuerchen anmacht. Aber, es ist schrecklich arm dort - nur.“ Yasin Ali reckte sich jetzt sehr stolz, „wir kannten es eben nicht anders. Manche sind die Saison über in Alanya - zum Arbeiten wie ich. Andere pflanzen das Feld an. Wenn die Baumwolle reif wird, ziehen noch immer viele in die Çukurova. Dort kann man sich bei einem der reichen Besitzer verdingen.“
Yasin Ali schwieg. Er fürchtete auf einmal, dass er zu viel gesagt hatte - zu wildfremden Menschen, die ihn nichts angingen. Auch er ging sie nichts an. Aber er hasste es, wenn Landsleute von ihm sich zu Lügengeschichten aufschwangen, nur weil sie hier etwas darstellen wollten in einem anderen Land als sie konnten.
„Das Leben dort ist hart, aber wunderschön“, wiederholte er noch. „Wir leben mit dem Rhythmus der Natur. Verhungert sind wir nicht ... auch wenn es oft nur die tägliche Suppe gab. Mutter aber würzte sie immer unnachahmlich mit den Bergkräutern. Kennst du Tarhanasuppe? Bestimmt nicht. Und manchmal, nicht zu oft, gab es auch eine Reissuppe mit ein paar Stücken Huhn darin.“
Er schwieg jetzt. Fatmas Mutter starrte ihn an. Das eindringliche Blau ihrer Augen wechselte tatsächlich mit einem Türkis wie das heimische Meer im Licht. Schließlich sagte sie leise: „Wir würden so ein Dorf gerne einmal erleben - auch die Landschaft des Taurus. Wir sind bloß um Alanya herum geblieben. Feriengäste eben. Wir hatten ja kein Auto. Dafür haben wir fast täglich auf dem Burgberg gesessen, immer an einer anderen Stelle, und tief herunter über die blaue Bucht geblickt. Am herrlichsten ist es, wenn der Abend seine blaue Stunde verzaubernd über das Städtchen legt. Der Turm leuchtet lange wie ein rötliches Wahrzeichen in der untergehenden Sonne. Der betäubende Duft der Glyzinien geht mir seitdem nie mehr aus der Seele. Und die Freundlichkeit der Menschen. Wie oft habe ich dort eine frisch gebackene Gözleme gegessen, mit Spinat und Käse gefüllt, manchmal mit Hackfleisch, den frisch gepressten Orangensaft dazu getrunken, eine sonnengereifte Köstlichkeit. Und hinterher bekamen wir oft Tee geschenkt ohne einen Kurus zu bezahlen ... Schwarztee, Apfeltee für die Kleine - oder auch Salbeitee.“
„Und einmal waren wir dort sogar frühstücken“, rief Fatma. „Es gab lauter eingelegte, seltsame Früchte. Wie wussten nicht einmal, wie sie hießen, aber es war sooo lecker.“
Yasin Ali lächelte unter seinem Schnurbart. „Auch meine Mutter hat Früchte süß eingelegt“, sagte er. „Sie schmecken ein bisschen wie eure Marmelade, nur besser.“
„Stimmt“, echoten Mutter und Tochter fast gleichzeitig. Und sie lachten jetzt miteinander, verwundert, als würden sie sich schon lange kennen.

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