Die
Gewinnergedichte des "Berliner Lyrikwettbewerbes"
1. Preis
Dirk Tilsner
teilweise
Die scheuen Augen, die sich noch verschanzen.
Der Müde, der die Fügung noch verkennt.
Die Freske schöpft die Fülle eines Ganzen,
doch ohne Finger wär‘ das Werk Fragment.
Die Berge, die als blaue Orgel steigen.
Ihr Spieltisch Wald. An ihm vorbei treibt still
der Fluss, vor dessen Bild wir staunend schweigen.
Ein weißes Segel macht es zum Idyll.
Die Primel, die ich schenken wollte, schmückte
ein Tropfen Tau, der an der Blüte hing.
Was mich bei jener Schönen so entzückte?
Es war ihr Lächeln, als sie weiterging
2. Preis
Edda Gutsche
Der Mohn-Monat
Jetzt ist der Mohn-Monat da,
wo die Monde in den Märchen
schlafen
und sich bei Tage
in die Bäume hängen
wie Sonnen.
Mohn-Monat, Herzblut am Feld
der schwankenden Ähren,
tanzen
wie von Sinnen,
bis aus den Kapseln
die Nacht steigt.
Der Mohn-Monat ist da,
wo die Monde böse
träumen
und sich fallen lassen
von Zweig zu Zweig
in die Angst.
3. Preis
Ralf Burnicki
Am See
Der Dezember
steht am See, am Eiswagen
des Winters gibt’s heute
Licht am Stiel.
Zweisamkeit
wird jetzt kalt gegessen.
Die Nachrichten melden:
Alle Gegensätze
sind zugefroren.
Zwei Teenager halten
Hand in Hand
an ihrer Begegnung fest.
Ihre Gedanken können
nun übers Wasser gehen.
Schnee liegt wie Puderzucker
auf jeder Umarmung.
Später der Wind,
er fährt Büschen
durchs Haar,
raspelt Süßholz.
Obersee, Bielefeld
4. Preis
Helmut Glatz
Espressogesang
Schwarzer Espresso in mondener Schale,
aus glutheißem Geiste gemacht,
schwarz wie die Gondeln am Grande Canale,
Auge des Neumonds, flüssige Nacht.
Kohlschwarzes Auge im Zentrum der Plätze,
von wilden Gedanken umkreist,
mit dem Löffel verrühr ich den Gang der Gesetze,
bewege die Räume, die Zeiten, den Geist.
Schwarzer Espresso, mit Hochgenuss schlürfe
ich aller Geschlechter Freude und Leid,
gestalte Gedanken, entwerfe Entwürfe,
rüttle am ehernen Gitter der Zeit.
Schwarzer Espresso in mondener Schale,
was schleuderst du mir die Welt ins Gesicht?
Ich kreise im Bett, ein Salto mortale,
will schlafen, nur schlafen,
und kann es doch nicht.
5. Preis
Peter Frank
La Verna
Drei
Mal schlägt die
Glocke,
als
treibe sie einen
Nagel
in die
sanften Flächen der
Hügel.
Wie
einst die Erde
ö
ffnet sich
die
Holztür der
Basilika.
Wind
stürzt von den
Ziegeln,
greift
die braunen Kutten
ihrer Armut,
in der sie leben,
jenseits der Zeit,
unerbittlich
wie
die neunte
Stunde,
die
Wundmale in den
Wolken.
6. Preis
Renate Mosel
Reisenotizen 1
Normandie
Licht
in eigener Färbung
spielt und durchflutet
Dörfer
blaue Hortensien
spiegeln
azurfarbenen Himmel
Kirchen
Querschnitt und Maßwerk
in Strenge und
heiterer Ordnung
Äpfel
gekeltert gepresst
erfrischender Trank
stillt Sehnsucht und Durst
Normannische Erde
Landung
Tote
Vergeltung
Küste
Ebbe und Sturmflut
ferne Länder
Weitblick und Sorge
Weisheit
Versöhnung befreit
„Menschliche Tugend
als äußerstes Sein“
(Thomas von Aquin)
7. Preis
Monika Knack
Griechenland
Die Orangen schliefen
in blauen Kisten am bartlosen Berghang.
Und einzig heimatlose Katzenbanden schlichen
im Schatten der steinernen Häuser -
wo auch wir saßen mit weißen Blusen wie griechischer
Putz,
Mohn in unserem dunklen Haar
und sandigem Wein.
Unsere langen Gespräche flochten sich
an hölzernen Barken entlang
oder an den warmen Mauern der einsichtigen Abende –
wo uns die Rührung der Philosophen erfasste,
die ihr Wachsen wie ein Geheimnis hüten.
Denn auch der wirklich Hingerissene,
spricht allmählich bescheiden
8. Preis
Manfred Burba
Preußisches Intermezzo
Eine Anekdote.
Von Frankreich reiste einst Voltaire
nach Potsdam bei Berlin
und hoffte dort, als Sekretär
des Königs einzuziehn.
An einem Tag auf dieser Tour
bedrängte ihn der Mob;
die meisten randalierten nur,
doch manche wurden grob:
„Er ist Franzose, hängt ihn auf!
Er nimmt uns Brot und Lohn!
Zieht ihn am Galgenstrick hinauf!
Er ist ein Hundesohn!“
Voltaire, als Ausländer entlarvt,
beklagte daraufhin:
„Bin ich nicht schon genug bestraft,
dass ich kein Preuße bin?“
Der Mob fiel auf den Bluff herein
und jubelte ihm zu.
Voltaire stieg in die Kutsche ein
und hatte seine Ruh.
Die Hautevolee von Sanssouci
nahm seinen Coup als Witz,
als eine Art von Comédie
und alle lachten über sie,
sogar der Alte Fritz.
Im Marmorsaal von Sanssouci fand die Tafel-
runde Friedrich II. und seinen Gästen statt,
darunter auch Voltaire von 1750 bis 1753.
9. Preis
Angelika Zöllner
Istanbul
I
die magischen schönheitsstapfen
die ich betrete
straßen räkeln sich lose
ein funkelgeschmeide
aus orientalischem und pulsierendem wissen geschöpft
leise winden sich wärmeschwaden
unter der sommersonne
nach irgendwo
händler kaufen sich laut und
mit fliegenden rufhänden
aus armut frei
eine taglänge eine woche
manchmal nur
für einen kurzen
flügelgedanken
ein kleines
glück.
II
bazar
aus der raschellust der bazare heben sich
zaubrigkeiten - düfte und tageslockung
bis die sinne dampfen
polizeihände wecken
mit kontrollgriffen aus dem schlaf
greifen nach kopftuchmüttern
mit überladenem tütengepäck
wachmänner
durchforsten gemüseteile
ihr sich verdunkelndes auge
berufsauge
die langwaffen
ziehbereit an der seite
lasten tragen sie
die andere zu heben befahlen
ihr kopf- und herzgehorsam
wie lange?
III
die großkirchen
mächtig der atem
alter großkirchen
ihr zeitloser schein
sie anblicken - ihr archaischer klang
Hagía Sofía - ahnherrin christlicher frühe
und der rundkuppel
höhenverbunden
in den tag schauend
eine königin in sich weitendem raum
das gewölbe goldet - uraltes sonnenwissen
und gleichnisse schwindender chiffren
freskenlegenden
manche noch immer
in übermaltes schweigen vertieft
schwesterlich hält sie die hand der moschee
Sultan Ahmeds - die mit blau-floralem
das ewige ziert
als würden sie künftig
wie schwesterbrüder
sich heran entwickeln
an des anderen
traum
über verengte horizonte
den sternweg wagen in
friedlich sich weitende religion.
10. Preis
Hanna Fleiss
Gezählte Tage
Schritte der Schatten
noch auf dem Straßenpflaster,
vor dem Gartentor.
Das Häuschen.
Fensterhöhlen starren mich an.
Eintrete, wer mag.
Wuchernder Goldregen.
Mohn blüht, gegen das Grau
der Mauern.
Verschollen die Stimmen
zwischen Disteln, Haargräsern,
Brennnesseln.
Duft weht mich an.
Ein Wildrosenstrauch, er birst
unter Blüten.
Die Zeit ging hindurch.
Einzig der Regen des Nachmittags
weiß um die Tränen.
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