Die Gewinnergedichte des Gedichtwettbewerbes "Zukunft, Gegenwart und Geschichte"

1. Preis

Hans Sonntag

Nirgendwo ankern

Unsere kleinen Boote
werden untergehen im Fluß,
aus dem wir einst geboren.

Wir können nicht leugnen
die Geschichten des Flusses,
die seit alters in uns sind.

Wörter auf Zettel geschrieben
leuchten himmelblau
und verwehen im Wind.

Wir wollen nicht zweifeln,
keiner wird wohnen am Ufer
länger als der Wind ist.

Unsere Träume waren Vögel
gekommen zur Rast nur,
Spiegelbilder im Wasser.

Wir werden niemals finden
eine andere Heimstatt
als den Fluß und den Wind.

2. Preis

Julia Romazanova

weiß

bleib stehn. es gibt hier kein wände:
vereister wald.
ich weiß, dein atem, deine hände -
doch es ist kalt
und bis zum nächsten, das mir bliebe
ist's bitterweit.
ich weiß, dein glaube, deine liebe...
ich weiß bescheid.

doch wo ich bin, dort schlafen bäume:
du bist erwacht
am falschen ort. wie, deine träume?
nun, es ist nacht.

drum bitte geh, lass mich nur liegen,
und sag kein wort;
bald kommen schwärme weißer fliegen -
man trägt mich fort;
und fällt, wo uns're füße gingen
der weichste schnee,
fällt nichts mehr schwer, will nichts mehr ringen
und nichts tut weh

3. Preis

Marcus Neuert

Novelle

die Armen und Alten saßen am Hafen
im Schatten des Jahrs [die Sonne hielt
hinterm Berg für die Nacht] als ein Hai
groß wie ein Cadillac aufgedampftes
Frühsommersilber an den Flanken wie
besinnungslos durch die Reihen pflügte
und in den Dezembertonnen die Lichter
löschte. Und es war Heulen und kariöses
Geknirsch unterm Prekariat: das sortierte
im Dunkeln noch den Schreck aus den
ü briggebliebenen Gliedern als der Hai
schon längst zurückgeschwappt war in
ein endloses Schwarz hinter der sicht
baren Welt: das verkroch sich zitternd
unterm hell fallenden Himmel doch der
Hai kennt die besten Plätze im Schnee

4. Preis

Hans-Jürgen Gundlach

Fasching

In dem bunten Faschingstreiben
fühle ich mich nicht zu Hause,
lass´ das Kostümieren bleiben,
mach´ beim täglichen Verkleiden
gern mal eine Pause.

Zeige meine Seelenhaut
unverhüllt und leicht verkühlbar,
ungemietet, ungeklaut
und mir dennoch nicht vertraut -
nur ihr Faltenwurf ist fühlbar.

Meine Maske zu maskieren
würde mich zu sehr entlarven,
meine Mängel zu kaschieren
müsste ich mich massakrieren
mit ´nem Messer, einem scharfen.

Überlege vor mich hin:
Macht die tägliche Verkleidung
mehr als die im Fasching Sinn?
Zeigt sie, wer ich wirklich bin
oder mehr die Selbstvermeidung?

5. Preis

Monika Jarju

Jahreserster

Auf der Bank am See kauern Wolken
Licht durchblättert den Weg
im Gebüsch dunkeln Bäume
Möwen wetzen Flügelscheren
am ausgedachten Himmel
aus nicht erkennbaren Farben
Ein gelassenes Blau und Gleißen
das weiter brennt im noch leeren Körper
am anspruchslosen Ersten
Rote Asche folgt mir zum Bahnhof
am Nachmittag aus Schauern
entgegen dem neuesten Jahr kommt
ein Pärchen umschlungen im Ferngespräch
die Ohren tätowiert mit Handys
Die Sonne baumelt tiefer und tiefer
neben dem Zugfenster her
Braunes Gestrüpp wächst vorüber
Das Kraftwerk speit Plastikwolken
giftig verplombt so synthetisch schön
ü bersetzt grelles Licht in
die Neujahrsbotschaft vielleicht


weitere Gewinnergedichte