Wolfsjagd im Schneetreiben

18 Erzähler berichten von Tragödien und Happy Ends

Von Martina Ernst

In der namensgebenden Erzählung „Die Ostroute“ von Monika Jarju und Ali Amini wünscht sich Nader nichts sehnlicher als seiner großen Liebe Setareh nahe zu sein. Seine Familie im Iran ist ärmer als die von Setareh. Es scheint unmöglich, dieses Problem aus der Welt zu schaffen. Für Setareh wagt sich Nader zu weit über Grenzen hinaus und bringt sich als Rauschgiftkurier in eine lebensbedrohliche Situation. Die Geschichte des letzten kostbaren Gegenstands von Naders Fa-milie, eines Teppichs, raubt einem den Atem. Die Erzählung umweht das Flair von Tausendundeiner Nacht und hebt sich von den anderen Erzählungen ab.
In „Die Ostroute“ fügen sich längere und kürzere Erzählungen von interessanten Autoren wie Andreas Erdmann, Heide Rabe, Marko Ferst und Angelika Zöllner zu einer beeindruckenden Sammlung. 18 Autorinnen und Autoren berichten von wahren Begebenheiten, bewegenden Schicksalen und scheinbar aussichtslosen Situationen.
„Hör zu, Kind, ich möchte Dir eine Geschichte erzählen. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Es ist eine lange, eine schwierige Geschichte. Hör zu, Kind, ich weiß nicht, ob ich Dir diese Geschichte erzählen kann. Aber ich will es versu-chen. Wem soll ich sie sonst erzählen, wenn nicht Dir? Du bist noch klein, nicht einmal sechs Jahre alt. Du wirst mich nicht verstehen.“ So beginnt „Die Hochzeit zu Kana“ von Christine Koch, eine von 24 Erzählungen aus dem Buch. Großvater Samir erzählt von seiner geliebten Frau Leila, Schmerzenskind Hamit vor dem Hintergrund des Libanonkrieges von 2006 und den Opfern durch israelische Luftangriffe. Nur noch das Kind ist ihm geblieben.
Auch „Wolfsjagd“ von Andreas Erdmann beruht auf einer wahren Begebenheit. Ein junges Ren wurde gerissen, Auslöser für Vater und Großvater mit dem Rentierschlitten zu einer Wolfsjagd aufzubrechen. Für den achtjährigen Matis ist es die erste. Ihn beeindrucken, ja begeistern die Grauhunde. Doch ist es so einfach ein Tier zu töten, nur weil es seinem Instinkt gefolgt ist? Diese erste Jagd wird Matis A. Mikkelsens Leben für immer prägen, später setzt er sich für den Schutz der der Grauhunde ein. Obwohl in Norwegen spielend, wähnt man sich mitunter in aitmatowscher Landschaft.
Nicht jede Geschichte, die das Leben schreibt, glänzt in Gold, Pink und Himmelblau und nicht jedes happy end ist unbedingt auch fröhlich. Zeugnis davon legt die unglaubliche aber wahre Geschichte einer nach Mittelasien verschleppten Frau und ihrer Kinder ab, die nach 1941 und auch lange nach dem Ende des Krieges Unvorstellbares erdulden mussten um zu überleben. „Die Alte aus Mittelasien“ von Johannes Bettisch ist einer dieser Geschichten, die vor dem Vergessen geschützt werden müssen.
Mit „Genervtes Anstehen für Liebe“ von Dimil Stoilov, einem in seiner Heimat erfolgreichen bulgarischen Schriftsteller, fließt Humor in den Band ein. Der Krimi „Einfach genial“ von Gisela Witte und die Eisbärengeschichte „Arktische Begeg-nung“ von Marko Ferst bilden den unterhaltsamen Abschluss. Eine gewisse Schwermut verfliegt spätestens mit der Erzählung „A 46“ von Angelika Zöllner. Aufgrund der hohen Qualität einiger Erzählungen, gehen die recht kurzen Geschichten im Mittelteil etwas unter. Die Themenvielfalt zeichnet diesen Erzählband aus und der Sinn für Gerechtigkeit, der alles verbindet.

Andreas Erdmann, Marko Ferst, Monika Jarju u.v.a.: Die Ostroute. Erzählungen, Edition Zeitsprung 2014, 256 Seiten, 16,90 Euro.

Tageszeitung "Neues Deutschland", 29.1.15